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Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Projektleitung: Jeannine Wanner

Korrektorat: Dominique Thommen

Gestaltung: Fabienne Steiger

eISBN 978-3-7245-2437-3

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2412-0

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom
Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag
für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

www.reinhardt.ch

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Für Reto,
meinen Kreativitätsaufrechterhalter
.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

EPILOG

Dank

Autor

Quellen

Prolog

Und zu den Jüngern sprach er: Es war einmal ein reicher Mann, der hatte einen Verwalter. Der wurde bei ihm verklagt, er verschleudere sein Vermögen.

Da rief er ihn zu sich und sagte: Was höre ich da über dich? Leg die Schlussabrechnung vor, denn du kannst nicht länger Verwalter sein!

Der Verwalter aber sagte sich: Was soll ich tun, da mein Herr mir die Verwaltung wegnimmt? Zu graben bin ich nicht stark genug, und zu betteln schäme ich mich. Ich weiss, was ich tun werde, damit sie mich, wenn ich als Verwalter abgesetzt bin, in ihre Häuser aufnehmen.

Und er rief die Schuldner seines Herrn, einen nach dem andern, zu sich und sagte zum ersten: Wie viel bist du meinem Herrn schuldig?

Der sprach: Hundert Fass Öl.

Er aber sagte zu ihm: Da, nimm deinen Schuldschein, setz dich hin und schreib schnell fünfzig!

Darauf sagte er zum zweiten: Und du, wie viel bist du schuldig?

Der sagte: Hundert Sack Weizen.

Er sagte zu ihm: Da, nimm deinen Schuldschein und schreib achtzig.

Und der Herr lobte den ungetreuen Verwalter, weil er klug gehandelt hatte. Ja, die Söhne dieser Welt sind im Verkehr mit ihresgleichen klüger als die Söhne des Lichts! Und ich sage euch: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit man euch, wenn er ausgeht, aufnimmt in die ewigen Wohnungen.

Die Bibel (Zürcher Bibelübersetzung), Evangelium nach Lukas, Kapitel 16, Verse 1 bis 9.

1

SCHEISSEN IST ARBEIT. Diese Weisheit war in weissen altdeutschen Lettern auf der Front seines schwarzen Kapuzenshirts gedruckt. Die Mischung aus Linksautonomen und Künstler fiel durch laschen Gang und nicht vorhandene Körperspannung auf. Das müde oder zugekiffte und gealterte Mitglied der unteren Gesellschaftsschicht betrat Tram Nummer 4 an der Station Helmhaus, setzte sich mit einem kraftlosen Plumpsen vis-à-vis vor sie und sortierte seine zerschlissenen Dockers zwischen ihre modischen High Heels aus glänzendem Leder. Das Bouquet aus billigem Feldschlösschen-Bier mit der strengen Note unvollständiger Körperhygiene überwältigte ihr Parfüm und breitete sich nicht nur bis zu ihrer Nase aus, sondern bohrte sich direkt in ihr Erinnerungszentrum. Dort wirkte es auf die schmucke Frau im Businessdress und mit soeben frisch frisierten Haaren aufregend.

Eine mit verkratzten Nieten besetzte Kunstlederjacke, die er über seinem Shirt trug und zusammen mit allen anderen Kleidungsstücken und Accessoires den Zeitstrahl seines Niedergangs präsentierte, war von durch Schmutz verfärbte Aufnäher übersäht. WIDERSTAND HEISST LEBEN, war eine der Weisheiten und weckte Erinnerungen an ihr eigenes, erstes Leben, als sie Zürich noch als «Scheissdorf» und «nach Putzmittel stinkende Bankendeponie» bezeichnete, «die durch Reichtum und Dekadenz total verblödet ist».

Ein Grinsen überkam ihr Gesicht, denn auf Höhe der linken Brust des Mannes prangte ein weiteres Stoffkunstwerk; es zeigte Polizisten, wie diese auf der Flucht vor Autonomen übereinander stürzten. Darauf war zu lesen: FESTE FEIERN, WENN SIE FALLEN.

Fionas gekitzeltes Erinnerungszentrum liess jetzt einen bissigen Flashback von der Kette. Sie blickte nach rechts aus dem Fenster, um ihrem Kurzzeitgedächtnis freien Lauf einzuräumen. Ein Comedian, der es vor wenigen Tagen in einer Sendung des Schweizer Fernsehens genau auf solche Typen abgesehen hatte:

«Von keinem seiner Eidgenossen hat der Schweizer ein so klares Bild wie von den Linksautonomen. Er pflegt angeblich die freie Liebe, obwohl doch im Hauptberuf schwuler Künstler und einsamer Strassenmusiker. Vom Morgen an kippt er sich Dosenbier in den Rachen, liegt den ganzen Tag zugekifft im Park, bevor er – nach der Mittagspause von 11 bis 18 Uhr – zum Abendessen eine Packung selbstgedrehte Zigaretten raucht. Gearbeitet wird gar nicht, dafür demonstriert, gesprayt und dann wieder Bier getrunken.

Nachts wird das linke Subjekt dann aktiv, weil tagsüber ausgeruht, und versucht so, eine nächtliche Parallelkultur in den illegal besetzten Häusern Zürichs zu etablieren. Lichtscheu und feige ist er. Er weigert sich, nationalen Heiligtümern, wie dem Opernhaus, zu huldigen, und verachtet sakrale Räume, wie neonlichtdurchflutete, klimatisierte Grossraumbüros. Eine Schande.

Trotzdem erfüllt auch diese Spezies einen wichtigen Zweck, nämlich die Aufwertung schrottreifer Wohnquartiere. Wenn der Stadtrat irgendein Quartier von vergammelten Industriebauten befreit hat und dort wieder Homo sapiens ansiedeln möchte, pflanzt er zunächst linkes Milieu und Künstler an. Die machen aus dem Schandfleck urplötzlich ein schickes aufstrebendes Künstlerquartier. So verbessert sich der Ruf des vormaligen Slums. Es hypt – die Mieten steigen. Juhu! Das Milieu verbessert sich nun von Unterschicht mit Schäferhund zur Mittelschicht mit lauten Kindern, hin zu Doppelverdienenden-Paaren-ohne-Kinder-Oberschicht. Und wenn die Herde dummer Künstler sich die Wohnungen nicht mehr leisten kann, hat sie ihren Zweck erfüllt. Zürich sagt seinen Linken danke. Ethnische Säuberung …»

Der Vortrag ihres Flashback-Comedians endete abrupt, als Fiona den sich im Fenster spiegelnden, quadratischen Aufnäher am rechten Ärmel des Seniorrebellen entdeckte. Ein Walt-Disney-Schneewittchen, bewaffnet mit einem halbautomatischen Maschinengewehr; FIGHT LOOKISM wurde Schneewittchen in den Mund gelegt.

Ihr starker Drang, sich optisch in das Gegenüber zu vertiefen, fiel ihr auf. Und sie wusste, was sie verdrängte:

Diese, ihr gegenübersitzende, Kreatur würde in einigen Stunden noch eine Heimat haben.

Sie nicht mehr.

Fiona widersetzte sich der Frage, wo sie denn in wenigen Stunden enden würde. Gefühle einer früheren Lebensepoche wurden stattdessen unerwartet stark lebendig. Zu ihrer Entspannung. Zu ihrer Motivation.

Fiona Rosenwiler. Sie sah sich plötzlich wieder deutlich als «linkes Luder». Sie genoss im Tram Nummer 4 ihre lang zurückliegende Weigerung, sich einer noblen Gesellschaft anzuschliessen und stattdessen lustvoll ihre Sabotage- und Guerillazeit zu durchleben.

Nichts war ihr damals peinlich gewesen, weder vor noch nach dem Ersten Mai. Reclaim the Streets – diesem hehren Ziel diente sie, beispielsweise bei einem Scharmützel in Fabrikgebäuden des Zürcher Binz-Areals oder bei Pflastersteinattacken in der Bahnhofstrasse auf Schaufenster von Rolex, Prada und Louis Vuitton. Des Weiteren befürwortete sie das Abfackeln getunter Porsche Cayenne Turbos. So war Fiona Rosenwiler leidenschaftliche Mitverursacherin von jährlichen Millionenverlusten der Versicherungswirtschaft und des Kantons.

Sie liess es in Auseinandersetzungen mit ihren immer distanzierteren Familienmitgliedern nie gelten, dass linke Gewalttäter fehlgeleitete Personen seien, denn ihre Absichten fühlten sich für sie stets äusserst edel an. Ohne jede Scham, wie in Trance, blickte Fiona Rosenwiler, auch Rosi genannt, mittlerweile ihrem Gegenüber lächelnd ins Gesicht, innerlich freudig über ihre damalige Entscheidung und den daraufhin geborenen Erfolgsweg.

Ihr Sitzplatzgegenüber weckte in «Rosi» nun auch Sentimentales. Sie erinnerte sich an die gemeinsam gesungenen Lieder; der deutsche Punkrocksong «Deutschland muss sterben, damit wir leben können!» wurde zu «Zürich muss sterben, damit wir leben können!». In den Zeilen dieses Liedes steckte alles drin, was für sie Wahrheit war: das niederträchtige Kapital, das Protektorat des Faschismus, die zerstörte Umwelt und der korrumpierte Mensch. Zu Bass und Melodie liess sie es regelmässig, im alkoholisierten und durch nicht nur weiche Drogen beeinflussten Zustand, in vernebelten und stickigen Privatkellern krachen.

Ihr Körper wurde zu ihrer Waffe.

Der Aspekt der psychischen und physischen Körperertüchtigung als Linksautonome hatte Vielversprechendes: Fit durch Flucht und Schlägerei. Dabei cool bleiben, sein Ding durchziehen und sich nicht provozieren lassen. Eine klasse Zeit, damals, mit einem sich bis heute auszahlenden Trainingseffekt. «Die Schickimicki-Gören rennen in die staubfreien Pilates-Center und verrenken sich in peinlichen Bewegungen. Und degenerieren dabei charakterlich. Wohlstand züchtet nicht nur feige Schweine, sondern auch unbewegliche Grossraumbüroinsassen», meinte Fiona seinerzeit mit beschwingter, ideeller, verächtlicher, sich vom Geldadel distanzierender, Ausdrucksweise.

Als Oberschichttochter teilte sie ordentlich gegen uniformierte Mitglieder der Mittelschicht (zum Beispiel Polizisten aller Couleur) aus. Fiona lernte dabei das Einstecken von gesellschaftlicher Ablehnung und Gummigeschosstreffern. Bei den meisten Demonstrationen gegen irgendwas Kapitalistisches trafen sie, bei zum Teil von ihr nach der Taktik Rotieren – Heisslaufen – Siegen selbst orchestrierten Ausschreitungen, Plastikprojektile, Schlagstöcke und Wasserwerfer. Hierbei entwickelte Fiona Rosenwiler echte Nehmerqualitäten, so, wie ein Boxer beim Sparring oder im Wettkampf sein Schmerzempfinden reduziert.

Sie ergötzte sich im Hass auf multinationale Konzerne und imperialistische Staaten, die wie am Fliessband Kriege auf der ganzen Welt verursachten, verantwortlich waren für Hungersnöte und globale Fluchtbewegungen. Jede von ihr angewendete Form der Gewalt empfand sie als Notwehr. Sie fütterte ihr Gehirn mit den Schriften von Marx und war begeistert davon, dass Gewalt und ein alternativer Lebensstil Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft sein könnten; einer Gesellschaft, die klassenlos und somit gerechter wäre. Gegenwärtig würde man in einer Phase leben, in der Gewalt zum festen Instrument gehöre und diese von den Entschiedensten praktiziert werden müsse. Diese Gesellschaft müsse durch Revolution aufgerüttelt werden. Die Bedingungen, durch herkömmliche Kommunikation, schnöde Demokratie und öffentliche Diskussionen die Gesellschaft verändern zu können, schienen ihr meilenweit entfernt.

Fiona Rosenwilers Skrupellosigkeit verschärfte sich zunehmend durch den Austausch mit Linken in Deutschland. Fiona lebte jahrelang als Pilgerin zwischen den Grossstädten Deutschlands, Hamburg, Berlin und Frankfurt; gab es dort Aufstände gegen das Establishment, scheute sie keine Reisekosten.

Einige Zeit arbeitete sie in Hamburg in der Roten Flora, das die Presse «Rückzugszentrum für Chaoten» nannte. Für das linke Sozialzentrum, wie sie und ihre Mitstreitenden es nannten, arbeitete Fiona am Widerstand – dem Widerstand gegen die devote gesellschaftliche Einfältigkeit, zum Beispiel durch die Welcome-to-Hell-Demonstration. Mit Erfolg.

Sie leitete die Siebdruckwerkstatt und diskutierte auf Leitungsebene, dem sogenannten Plenum, die Renovierung der Toilettenanlagen und die Zukunft des Kommunismus. Sie war beseelt vom Kampf gegen die neoliberale Politik, die überall in der Welt die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher machte.

Dagegen bereitete ihr der Widerstand gegen die sinkende Motivation der Altgedienten (also der über Fünfundzwanzigjährigen) und gegen Aussteigerprogramme des Bundesamtes für Verfassungsschutz mehr Sorgen.

Während knapp zehn Jahren hatte sich Fiona Rosenwiler in der linksextremen, gewaltbereiten Szene in Hamburg, Berlin und Frankfurt bewegt. Vor Gericht verantworten musste sie sich wegen neun Brandanschlägen. Als Protest gegen die europäische Aussen- und Rüstungspolitik entzündete sie eine selbst hergestellte Explosionsvorrichtung am Gebäude des Deutschen Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen in Berlin.

Ein andermal setzte sie in Hamburg Altona sechs Luxusautos in Brand, um so gegen die Inhaftierung von Gesinnungsgenossen aus der Roten Flora zu protestieren. Die Straftaten wurden auf Antrag Deutschlands rechtshilfeweise von den Schweizer Strafverfolgungsbehörden ermittelt. Rosenwiler wohnte zwar in Deutschland, besass aber für sie glücklicherweise den Schweizer Pass und konnte in ihr Stammland fliehen. Nachdem sie wieder in die Schweiz übergesiedelt war, konnte sie nicht mehr nach Deutschland ausgeliefert werden.

Aber irgendwann, an einem sonnigen und überdurchschnittlich warmen Montag im März, hatte Fiona «Rosi» Rosenwiler einfach die Schnauze voll von der Riesenscheisse und warf alle Milieuutensilien in den Müll.

Fertig.

Raus aus der Sekte!

Sie vollzog eine Kehrtwende um exakt hundertachtzig Grad. Die zunehmende Laschheit der Gruppe kotzte sie an.

Die Linken in Zürich vegetierten längst nur noch in Reservaten der Stadtkreise 4 und 5 und genossen ihre bedingungslose Kapitulation.

Ausserdem nervte «Rosi» die Tatsache, dass alle Neuen in der linken Szene immer und immer wieder das gleiche Idiotenflair mit sich brachten, als wenn es eine Voraussetzung wäre, Nichtsnutz zu sein.

In einem einzigen Akt höchster Egozentrik begriff sie schlagartig und ohne jegliche Vorankündigung ihre neuen Bedürfnisse. Die Furcht in ihr, eines Tages so zu enden wie der ihr jetzt gerade gegenüber kauernde Typ – ein Kerl mit lachhaften Piercings im Gesicht, die durch seine altersbedingte Bindegewebsschwäche, durch Plug-Piercings verursachten peinlichen Löchern in den Ohren, mit einer aus schütterem Haar geformten pseudojugendlichen Frisur und verlegenem Anstaltslächeln –, verschaffte ihr die Energie, diese Wende zu vollziehen.

Eine perfekte Wende, denn ihr Gegenüber, ein Kampfgefährte aus alten Langstrasse-Zeiten, erkannte sie nicht mehr.

Sie verspürte nicht mehr den geringsten Drang, gegen die wirtschaftsliberale Gesellschaft und ihre Mechanismen zu fighten, sondern vernahm die erregende Lust, das «bösartige System» mit allen seinen Möglichkeiten für sich zu nutzen. Sie plante, die kommenden Lebensjahre nicht mehr gegen Prügel einzutauschen, sondern gegen den Mammon, egal, wie schnöde der wäre. Fiona beschloss, dem Uringestank in besetzten Häusern den Rücken zu kehren, die Loser ihres Milieus hinter sich zu lassen und den Zwang zum Hass ad acta zu legen. Sie hatte es satt, mit beschissenen antikapitalistischen Jobs, wie Möbel restaurieren, Fahrräder reparieren, als Grafikfreelancer für zahlungsunfähige Start-ups unbezahlte Überstunden abzusitzen und Plasma im Blutspendezentrum Zürich abzuliefern. Sie hatte die Nase voll von antifaschistischem Kampf, Diskussionen über die Krise des Kapitalismus, das Gelaber über die Diktatur des Proletariats und Trotzkismus als Lösung.

Fiona Rosenwiler hatte sich an all das gewöhnt, was an der Oberfläche der Stadt zu sehen war. Sogar an die Armada von 570-PS-Luxus-SUVs – vorzugsweise Porsche Cayenne Turbo –, deren Fahrer hinter den Windschutzscheiben mitleidig auf die immer seltener werdenden Nicht-Porsche-Fahrer der Stadt blickten.

«Was glotzt du so, Bänker-Nutte?»

Fiona zuckte ob der spontanen Dialogeröffnung ihres Gegenübers zusammen. Sie realisierte ihren hypnotischen, starrenden Blick in das Gesicht des Mannes.

«Banken-Nutte», korrigierte sie wie aus der Pistole geschossen, und wunderte sich selbst darüber, wie schnell sie diesen Begriff «Banken-Nutte» kreieren konnte.

«Wie?», fragte ihr Gegenüber verdutzt über den unerwarteten Verbalkonter.

Rosenwiler beugte ihren Oberkörper nach vorn, bis auf einen halben Meter vor das Gesicht des Mannes. «Banken-Nutte», repetierte sie schulmeisterlich. «Es muss Banken-Nutte heissen, da mich die Bank bezahlt und nicht ein Bänker. Also: Banken-Nutte, nicht Bänker-Nutte.»

Der Mann kratzte sich am Brustbein, auf dem «ss» des Wortes «Scheissen».

«Des Weiteren sind wir nicht per du. Klar?»

«Ja, ja», erwiderte er in einem plötzlich milderen Ton, als ob er auf der Suche nach seiner verlorenen Aggressivität wäre. «Also, wie muss dann die Beleidigung korrekt heissen?», fragte Fiona mit von Wort zu Wort ansteigender Lautstärke.

Der Mann schwieg.

«Was glotzen Sie so, Sie Banken-Nutte?», antwortete Rosenwiler an seiner Stelle.

Fiona und ihr Visavis verliessen Tram Nummer 4 am Central. Er schlenderte Richtung Hauptbahnhof und sie stieg in Tram Nummer 3 um. Ab hier konzentrierte sie sich auf das von ihr selbst aufgetürmte Vorhaben. Nach drei Stationen, an der Haltestelle Sihlpost/Hauptbahnhof verliess sie das Tram und näherte sich ihrem Ziel: dem Hauptsitz der Kantonspolizei Zürich.

Wie Giselle Bündchen in ihren besten Tagen schritt, nein, marschierte sie über den Asphalt, mit aus der Lockerheit ihrer Hüfte stammenden, zielsicheren, kraftvollen Schritten. Wie immer äusserlich tougher als innerlich; zur Beruhigung begann sie, den Nirvana-Song «Smells Like Teen Spirit» zu pfeifen: Load up on guns, bring your friends …

Fiona spürte seit Langem wieder die Lust, alles aufs Spiel zu setzen. Ihre alte Gewalt-ist-geil-Mentalität zum detonieren zu bringen. «Jetzt geht’s los!», flüsterte sie zu sich selbst.

In wenigen Minuten würde sie ihre Welt für immer verlassen. Schmerzlich und lustvoll.

Am Metallzaun, der das dreistöckige, ungefähr sechzigjährige Gebäude der Kapo umgab, hingen drei Schaukästen. Diese präsentierten unter anderem mit knittrigen und durch die Sonne ausgebleichten Plakaten Warnhinweise vor Taschendieben oder rieten, bei Verdacht die Telefonnummer 117 zu wählen; das Druckerzeugnis auf dünnem Papier zeigte ein weisses Verbrecherauge auf rotem Hintergrund und warb mit dem Slogan «Gemeinsam gegen Einbrecher, Ihre Polizei».

Der zweite Schaukasten war geschmückt durch mangelhaft belichtete Fotos in A4, mit denen die Zürcher Polizeischule ZHPS um Nachwuchs warb; es zeigte Polizisten in Aktion, wie diese mutig zu dritt einen Jugendlichen auf den Boden drückten, um ihm Handschellen anzulegen.

Als Rosenwiler davor stehenblieb, war sie sicher, sie war die Einzige in den letzten zwanzig Jahren, die dieses Trauerspiel an Öffentlichkeitspräsentation beäugte.

Fiona sah Fotos von jungen Polizisten, barfuss in einer Turnhalle beim Nahkampftraining an Sandsäcken; ein Dutzend Stolz-Sein spielende Rekruten beim Appell, die mit angelegten Armen und durchgedrückten Wirbelsäulen stramm vor irgendeinem schreienden Ausbilder standen; sowie dynamische junge Männer und Frauen in Neoprenanzügen beim Schwimm- und Tauchtraining. Die Domain www.zhps.ch sollte wohl bei Passanten entsprechenden Alters eine Begeisterung für den Staatsdienst entflammen.

«Die Polizei – ein Scheissemagnet. Die Gebildeten gehen in die Wirtschaft, die Intelligenten in die Wissenschaft, die Empathischen in den Nonprofitbereich, die Kräftigen werden Profisportler. Nur die letzten Vollidioten landen bei euch», so dachte sie und konnte sich ein dezentes Kopfschütteln nicht verkneifen, bevor gleich mehr Disziplin, als auf diesen verblassenden Fotos dargestellt wurde, von ihr verlangt würde.

Ein letzter Schaukasten mit verdrecktem weissem Holzrahmen zeigte einen Deutschen Schäferhund, der den Betrachter mit heraushängender Zunge hechelnd direkt anstarrte; darunter stand ihrer Meinung nach, der erdenklich langweiligste Slogan: «Polizei-Notruf Tel. 117 Kantonspolizei Zürich». Als Fiona Rosenwiler noch als Freelancerin Werbung produzierte, wäre ihr Besseres eingefallen:

Aggressionen legal ausleben – Ihre Kapo;

Garantierte Einschränkung der Persönlichkeitsentwicklung durch Staatsdienst; oder

Werde glücklich durch eindeutige Feindbilder und den devoten Dienst für die Reichen.

Nach einigen Schritten stand sie vor dem Gebäude der Kasernenstrasse 29, dem Kantonspolizei-Hauptsitz in der Polizeikaserne Zürich.

Sie, als eskalationsbeauftragte Speerspitze dessen, was jetzt in Kraft treten sollte, beendete ein achtjähriges Intermezzo als Besserverdienende und startete dieses Experiment mit den Gesetzmässigkeiten der Realität. Eine Grossproduktion.

«I feel stupid and contagious

Here we are now, entertain us.»

2

Die persönliche Stressbeständigkeit in Extremsituationen liesse sich auch erkennen beim Konsum von Horrorfilmen, erfuhr Rosenwiler während der Vorbereitung auf das Experiment!

Der Horrorfilm verursache mit den dargestellten Grausamkeiten im Cortex und Temporallappen, der im menschlichen Gehirn für die Verarbeitung von Gehörtem zuständig ist, Angstimpulse. So reagieren einige Menschen verbal auf Horrorfilme, indem sie schreien oder kreischen. An Horrorfilmen erkennen Psychologen den emotional-kognitiven Denkstil eines Menschen. Dieser Denkstil entscheide darüber, ob Betrachter einen Horrorfilm eher als realistisch oder als virtuell wahrnehmen. So seien zwei unterschiedliche Sichtweisen und Reaktionen beobachtbar. Zartbesaitete Menschen, die einen Horrorfilm als realistisch einordnen, nehmen das Geschehene so wahr, als würden die Effekte auf ihr eigenes Leben eine Auswirkung haben, wodurch die empfundene Bedrohung ausführende Bereiche des Gehirns aktiviert und den Menschen in Handlungsbereitschaft versetzt, beispielsweise um flüchten zu können oder einen entstehenden Angriff abzuwehren. Es entsteht Stress.

Dagegen gibt es Menschen, die regelmässig Horrorfilme konsumieren oder in anderen Lebensbereichen Stress ausgesetzt sind. Diese reagieren auf solche Filme entgegengesetzt zu den vorherig Beschriebenen. Sie ordnen den Schrecken völlig anders ein; bei ihnen sind für Erregung zuständige Gehirnareale kaum aktiv. Bei solchen Menschen spielen die Thalamuskerne des Gehirns eine Rolle, ausserdem Gehirnregionen wie der primäre visuelle Cortex und Areale für die Objektexpertise.

Solche Personen empfinden keinen Stress, sondern Lust und Freude. Wenn also in der Neuverfilmung von Stephen Kings «Es» einem kleinen Jungen von einem teuflischen, in der Kanalisation lebenden Clown zunächst ein Arm abgebissen wird, oder wenn in «Texas Chainsaw Massacre» der Kettensägenschwingende Jedidiah «Jed» Sawyer alias Leatherface eine hübsche, lauthals kreischende, Frau in die Ecke drängt, um sie vom Scheitel bis zum Schambein in zwei Hälften zu sägen, so ist der durchschnittliche Kinobesucher (Kategorie eins) wegen der blutigen Brutalität gegen Unschuldige schockiert. Andererseits erfreuen diese Szenen den trainierten Horrorfan (Kategorie zwei) wegen der gelungenen Romanumsetzung, der visuellen Effekte und der passend gewählten Hintergrundmelodie.

Rosenwiler gehörte zu dieser zweiten Kategorie.

Der nun auf sie wartende Horror animierte ihre Freude an stilvoller Gewalt. Stilvoller, von ihr ausgehender, Gewalt.

Fiona Rosenwiler betrat gespannt und angespannt das Gebäude der Kantonspolizei Zürich in der Kasernenstrasse und erfuhr sofort, wer für sie als Erstes zuständig war. Zu ihrer Rechten befand sich ein Welcome Desk, so würde man es wohl auf einer Messe nennen, Rezeption in einem Hotel.

Eine uniformierte Polizistin ihres Alters, der man ansah, dass die körperlichen Fitnessübungen, wie sie in den Schaukästen am Zaun vor dem Kapo-Gebäude gezeigt wurden, eine aggressiv-dynamische Ausstrahlung bewirkten, wendete sich ihr reflexartig zu. Nachdem Rosenwiler ihr Gesichtsfeld betreten hatte, wurde sie von der Beamtin mit einem Ich-hoffe-für-Sie-es-istwichtig-Blick gemustert.

Fiona fielen ihre kurzgeschorenen Haare auf, ihre schmalen Lippen und die kräftigen Hände. Gar nicht so unerotisch, dachte sie.

«Grüezi», erwiderte die Beamtin die noch stumme Anwesenheit Rosenwilers mit einer maskulinen Stimme.

Fiona legte ihre beiden Handflächen ruhig auf das Desk, während sie ihren Kopf ganz leicht nach links beugte. «Grüezi. Mein Name ist Fiona Rosenwiler, ich bin Einwohnerin dieser Stadt und muss Ihnen ein Verbrechen melden.»

«Sie möchten eine Anzeige erstatten?», fragte die Polizistin mit dem Tonfall einer geschulten Beamtin, die gerade erkennt, dass sie jetzt gleich aus ihrem Trott gerissen wird.

«Nein. Ich möchte ein Verbrechen melden», widersprach Rosenwiler energisch und verlagerte ihr Körpergewicht auf das rechte Bein.

«Dann wollen Sie eine Anzeige erstatten», konterte die Polizistin aggressiv und spannte ihre Unterarme an.

«Nein!»

«Nein?»

«Nein. Es handelt sich um ein zukünftiges Verbrechen. Wahrscheinlich wollen Sie Anzeige erstatten.»

«Wie bitte?», fragte die uniformierte Frau und störte sich an dem Durcheinander an Provokativem und Femininem in einer Person.

«Einen Moment, Frau Rosenwiler.»

Die Polizistin, auf deren Namensschild Beatrix Welti stand, setzte nun ihren Na-warte-verarschen-kann-ich-mich-selbst-Blick auf, drehte sich zu einem dunkelgrünen Neunziger-Jahre-Telefon um, nahm den Hörer ab, drückte eine Taste, wartete einige Sekunden und sprach etwas Humorloses in den Hörer. Gefreite Welti legte auf, drehte sich mit einer kraftvollen Körperdrehung zurück zu Fiona, meinte, sie solle einen Moment Platz nehmen, und zeigte auf eine Reihe von Stühlen gegenüber dem Eingangsbereich.

In den wenigen Minuten des Wartens beobachtete Rosenwiler das gedämpfte Bewegungstempo der anwesenden Beamten, das sie die geringe Kriminalitätsrate im Kanton Zürich erahnen liess. Vier Beamte in ihrem Blick sassen an Bildschirmen, lasen irgendetwas ab, tippten irgendetwas ein; einer trug ein Blatt Papier, das er einem Drucker entnommen hatte, quer durch den Raum und legte es auf einen verwaisten Schreibtisch eines Kollegen. Fiona vermisste die harten Typen von den Fotos in den Schaukästen; coole, wie am Fliessband Gefangene anschreiende, bedrohende und dann wegtransportierende Machos. Sie erwartete nicht unbedingt Dirty Harry, Jimmy «Popeye» Doyle oder John McClane, aber wenigstens harte Kompromisslosigkeit ausstrahlende Kerle. So wie die Bullenschweine, gegen die sie auf der Strasse gekämpft hatte. Je härter ihre Gegner gewesen waren, umso weniger fühlte sie sich als Täterin, sondern als Opfer. Opfer sein brauchte sie, auch wenn sie es nicht liebte. Die Identität als die Schwächere entfesselte Fionas Durchschlagskraft. Die herumlaufenden Kapo-Typen sahen alles andere aus als Clint Eastwood, Gene Hackman oder Bruce Willis, sie wirkten wie Bankangestellte, getunt mit körperlicher Fitness, einer Dienstwaffe und starker Stimme.

Wachtmeister Johannes Kälin war kein Mann, der darunter leiden musste, dass man ihm spontan zu wenig Ehrfurcht entgegenbrachte. Stattliche Körpergrösse, aggressiver Blick und seine laute, tiefe Stimme verschafften ihm Autorität bei Kolleginnen und Kollegen, Rechtsbrechern und Rechtsbrecherinnen.

Die Absätze seiner schwarzen Lederstiefel, die laut auf dem weissen Linoleumboden auftraten, erzeugten für einen Moment Kasernenhof-Feeling. Er bremste sich kurz vor der sitzenden Fiona Rosenwiler; sie blickte zu ihm auf.

Kälin checkte eine Sekunde ihre übereinandergeschlagenen schlanken Beine, deren Haltung sich im Moment von Fionas Aufblicken zu ihm ruckartig in eine Parallelstellung auflösten. Er wertete dies als Zeichen des Respekts gegenüber seinem Dienstgrad. Seine Überraschung über den ersten Eindruck – die optische Mischung aus Nicole Kidman mit einer Prise Hannibal Lecter – liess er sich nicht anmerken.

Der hätte mehr als einen Uniformträger aus sich machen können, dachte Fiona, fühlte sich andererseits ein wenig eingeschüchtert und flüsterte leise: «Wie schade für ihn.»

«Guten Tag. Mein Name ist Kälin. Was kann ich für Sie tun?» Er klang in ihren Ohren wie ein nervöser Schauspieler, der einen auswendig gelernten Text beim Vorsprechen auf einer Bühne zitiert, um sich für die Rolle des Hermann Gessler zu bewerben.

«Ich muss leider ein Verbrechen melden», erwiderte Rosenwiler nüchtern und mit gespieltem Bedauern, wobei sie gleichzeitig dachte: Diese Performance mit dem emotionslosen harten Auftreten haben dem armen Kerl sicher die Psychologen eingebläut. In Wirklichkeit bist du doch einer von den bemitleidenswerten Typen, die sich mit Ausdauersport in einen chronischen Erschöpfungszustand versetzen, um ihren homosexuellen Trieb zu dimmen.

«Wie war Ihr Name?», fragte er, um Zeit zu gewinnen, und kniff dabei seine Augen leicht zusammen.

«Rosenwiler. Fiona Rosenwiler.»

«Dürfte ich bitte Ihren Ausweis sehen?»

Rosenwiler zückte ihr Portemonnaie aus ihrer anthrazitfarbenen straussenledernen Roberto-Cavalli-Florence-Handtasche, entnahm ihren Ausweis und überreichte Kälin die, mit Schweizerkreuz oben links versehene, kreditkartengrosse Plastikkarte. Der uniformierte Beamte nahm sie an sich, verglich das Foto mit dem Gesicht der Frau vor ihm, las den Namen, blickte auf die Unterschrift und das Geburtsdatum 19 04 78, kontrollierte das schimmernde Sicherheitszeichen oben rechts, drehte dann die Karte auf die Rückseite, las Grösse: 178 cm, Geschlecht: F, Heimatort: Zürich, ZH, Behörde: Zürich, ZH, ausgestellt am 14 02 13, gültig bis: 13 02 23, Nationalität: Schweiz, die Ausweisnummer überflog er, ohne sie zu registrieren. Mit einem zaghaften Kopfnicken und einem kräftigen «Danke» retournierte er die Identitätskarte.

«Was für ein Verbrechen möchten Sie melden, Frau Rosenwiler?», fragte er mit einem Unterton aus Skepsis und Neugier.

«Es handelt sich um einen schweren terroristischen Anschlag, verübt von einer Einzelperson in dieser Stadt.»

Kälin dachte Quatsch! und sagte: «Folgen Sie mir, bitte.» Er beobachtete Fiona und sah, wie sie sich erhaben aufrichtete.

Wie ein gehorsames Mädchen folgte sie ihrem ersten Opfer nach, in einen zehn Schritte entfernten Raum. Dieses Zimmer zeichnete sich durch schlichtes Interieur aus; ein kleiner grauer Tisch in der Mitte, mit zwei genauso grauen sich gegenüberstehenden Stühlen; eine rechteckige Lampe erzeugte zusammen mit dem, durch ein vergittertes Fenster dringenden, Tageslicht ein Zwielicht, das von den hellblauen Wänden teilweise geschluckt wurde.

Höflich wies Kälin Fiona einen der beiden Stühle zu, liess die Tür hinter sich offen und wusste noch nicht, dass er seine Höflichkeit gleich ad acta legen würde. Beide setzten sich synchron, aber nur Fiona fiel der Geruch von Putzmittel auf (Zitrus).

«Woher wollen Sie das wissen? Woher haben Sie Informationen über einen Terroranschlag?» Er sprach das Wort Terroranschlag so schräg aus, als wäre es das absurdeste Wort, das er je gehört hatte.

Kälin nahm einen Kugelschreiber in seine linke Hand und liess diesen über einem bereits daliegenden Formular schweben; er wusste noch nicht, wie ernst er das nehmen sollte und war gespannt auf die Antwort der Frau.

«Ich selber bin die Terroristin!», verriet Fiona Rosenwiler mit der Sicherheit einer Nachrichtensprecherin.

Kälin vergass einen Moment auszuatmen; unterbewusst überlegte er, ob er den zurückbehaltenen Atem in Lachen oder Entsetzen investieren sollte. Er blickte die gut aussehende und noch besser gekleidete Frau ungläubig an. Sie erinnerte ihn nun etwas mehr an Hannibal Lecter und etwas weniger an Nicole Kidman. Irgendetwas stimmte nicht, er wusste nur noch nicht was, aber gleich würde er es rauskriegen.

Um den notwendigen Prozess zu beschleunigen, damit ihr Gegenüber zum Glauben käme, wiederholte sie: «Ich bin eine Terroristin. Ob Sie das glauben wollen oder nicht. Ich hoffe, es bringt Sie nicht durcheinander, dass ich keinen Bart trage, keinen arabischen Akzent spreche und ich nicht mit einer Kalaschnikow randaliere.»

Kälin lachte, wie jemand, dem an einem Stammtisch zu später Stunde ein typischer Männerwitz erzählt wird.

Rosenwiler blickte mit hochgezogener linker Augenbraue auf ihre Armbanduhr.

Entgegen ihrer ursprünglichen Annahme verlieh ihr diese Armbanduhr ein gewisses Selbstwertgefühl. Es handelte sich um eine Rolex Daytona. Aber nicht irgendeine Rolex Daytona, wie man sie für fünfzehn bis fünfzigtausend Franken hätte kaufen können. Es handelte sich um eine sogenannte Rolex Daytona Big Red, Jahrgang 1979. Fionas Vater Jakob Rosenwiler hatte sich diese Uhr im Jahr seiner Hochzeit, im Vorhaben, diese eines Tages seinem Sohn in Verbindung mit Lebensphilosophie und persönlichen Erfolgsgeschichten zu schenken, selbst geschenkt. Mittlerweile betrug der Wert des Sammlerstücks rund hundertzwanzigtausend Franken. Ein maskulines Modell, bestehend aus Stahl, mit drei schwarzen Totalisatoren auf dem weissen Ziffernblatt. In den Siebzigerjahren war Paul Newman in seiner Funktion als Rennfahrer für dieses Rolex-Modell Werbebotschafter. Für Fiona repräsentierte diese Uhr einerseits negativ den Makel ihres Geschlechts in den Augen ihres Vaters. Andererseits erinnerte sie der Chronograf auch an ihr Vermögen, ihr Netzwerk und ihre Exklusivität. Jakob Rosenwiler überreichte seinem Ersatzsohn das Prachtstück am Tag der Abschlussfeier ihres Hochschulstudiums in St. Gallen. «Für deine erfolgreiche Konversion, mein Engel», sagte er stolz und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, während ihre Mutter dümmlich grinsend danebenstand. Sie dachte Arschloch, nahm die Uhr und bedankte sich.

«In achtundzwanzig Minuten, genau um vierzehn Uhr dreissig, wird am Zürichberg eine Bombe explodieren. Ein kleines schmutziges Ding. Diese wird, so kann ich Sie vorerst beruhigen, kaum massenweise Tote produzieren – aber sie wird radioaktive Strahlung freisetzen. Diese Radioaktivität wird sich, begünstigt durch die gegenwärtige Wetterlage und die herrschende Windrichtung, über die Nobelvillen in dieser Gegend ausbreiten und einen nachhaltigen Wertverlust hinterlassen.»

Und er dachte: Was zur Hölle soll das?

Und sie dachte: Armer Junge, du glotzt, als ob man dir soeben einen Löffel Rohrreiniger zum Schlucken gegeben hätte.

«Vortäuschung eines Verbrechens ist kein Kavaliersdelikt, Frau Rosenwiler. Ihnen ist doch klar, solche Scherze, wie Sie sie sich gerade erlauben, sind strafbar. Das kann Sie teuer zu stehen kommen! Freiheitsstrafe und Regress aller entstehenden Kosten; Sie zahlen ein Leben lang für so einen Spass. Ist Ihnen das bewusst?»

«Tut mir leid, wenn ich Sie erzürne», heuchelte sie, «das ist kein Scherz. Ich wiederhole es gerne noch einmal. In achtundzwanzig Minuten …», sie blickte ganz kurz wieder auf die Uhr, «nein, jetzt siebenundzwanzig Minuten, um vierzehn Uhr dreissig, wird am Zürichberg eine sogenannte schmutzige Bombe explodieren. Diese wird radioaktive Strahlung freisetzen. Diese Radioaktivität wird sich über die Nobelvillen in dieser Gegend ausbreiten und einen beachtlichen nachhaltigen Wertverlust hinterlassen.»

Der knapp 700 Meter hohe Zürichberg, auf dem unter anderem der FIFA-Hauptsitz thronte, lag östlich der Innenstadt Zürichs. Seine Westflanke war besiedelt von den Wohnquartieren der Reichen und der Oberschicht.

Kälin war klar, einen solchen Vorfall hatte es in der Schweiz noch nie gegeben. Sollte so etwas tatsächlich passieren? Heute – jetzt – hier – bei ihm?

«Und jetzt schlagen Sie bitte Alarm», ergänzte Rosenwiler im Befehlston, während sie gleichzeitig ihren Oberkörper nach vorne beugte.

Kälin bewegte seinen Oberkörper nach hinten und sah Fionas makellose Zähne, die beim Lächeln nach dem Wort Alarm zum Vorschein kamen. Er hatte nicht die geringste Lust, Alarm zu schlagen, ihr und seinem stetig steigenden Magendrücken somit Glauben zu schenken, aber die Vorschriften verlangten es.

Vor einigen Jahren hatte ein Scherzkeks eine Banküberweisung in Höhe von 6.25 Schweizer Franken mit dem Betreff Rechnung Nr. 666 – für waffenfähiges Plutonium versehen. Diese Sache ging durch die Medien, da die Kantonalbank mit diesen Zeilen antworten musste:

«Sehr geehrter Kunde, sicherlich haben Sie mit Ihrem Überweisungsbetreff ‹Für waffenfähiges Plutonium›, nur einen Scherz gemacht. Leider sind wir von Rechts wegen verpflichtet, dies der Staatsanwaltschaft Zürich zu melden. Diese wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Wir bedauern diesen Vorgang und bitten Sie, zukünftig keine unüberlegten Formulierungen bei Überweisungen zu verwenden. Mit freundlichen Grüssen, Ihre Zürcher Kantonalbank.»