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Markus Blättler

Carnevalis

Die letzte Wiederkehr

Die Fortsetzung von «Vado Mori»

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Alle Rechte vorbehalten
© 2017 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
Lektorat: Beatrice Rubin
Cover: Céline Neubig
eISBN 978-3-7245-2249-2

Für Georgi, Leo, Theres und Kobi

Welche Freiheit würden wir besingen,
wenn das Spektrum der Möglichkeiten allein durch
die Launen des Schicksals bestimmt wäre?

Inhalt

PROLOG

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV

Kapitel XXXVI

Kapitel XXXVII

Kapitel XXXVIII

Kapitel XXXIX

Kapitel XXXX

Kapitel XXXXI

Kapitel XXXXII

Kapitel XXXXIII

Kapitel XXXXIV

Kapitel XXXXV

Kapitel XXXXVI

Kapitel XXXXVII

Anmerkungen

Autor

Krimis im Friedrich Reinhardt Verlag

PROLOG

«Der kalte Schweiss. Das ist der Schweiss des Todes.»
Georges Bizet – 3. Juni 1875

Die Erschütterung war deutlich zu spüren. Er liess die Zigarettenschachtel wieder unter seinem orangen Arbeitsoverall verschwinden und sprang von seinem Fahrzeug. Vielleicht war seine Baggerschaufel gegen einen harten Widerstand gestossen? Er inspizierte kurz den unappetitlichen Brei, der vor den Zähnen der eisernen Schaufel lag, konnte aber nichts Aussergewöhnliches feststellen: tonnenweise Papier und Schachteln, Alu-Dosen, PET-Flaschen und eine aufgeweichte Larve. Ein Kollege rief ihm zu, er solle sich beeilen. Mauro kletterte in sein Fahrzeug zurück. Vielleicht hatte die Erschütterung eine andere Ursache?

Er gliederte sich wieder in die Reinigungsarmada ein, die kurz nach vier Uhr morgens die Mittlere Brücke besetzte. Die Fahrzeuge arbeiteten sich Meter für Meter durch die Hinterlassenschaft der letzten Fasnachtsstunden. Bald würden hier wieder die grünen Tramzüge der Basler Verkehrsbetriebe über die Brücke rollen. Ein paar einzelne Fasnächtler beobachteten die Endreinigung mit melancholischen Blicken.

Keiner von ihnen hatte bemerkt, dass sich unter ihnen ein gewaltiger Schiffsbug aus dem kalten Wasser erhob. Es war keiner dieser Kiesschlepper, die tagsüber den Rhein als Transportweg nutzten. Es war auch kein Logier- oder Passagierschiff, das sich von den Leinen gerissen hatte. Das Wasser perlte von den rot gefärbten Riemen ab. Die Galeere schien einer längst vergangenen Epoche entsprungen zu sein. Sie besass zwei Segelmasten, goldene Aufbauten und einen aus Holz geschnitzten Neptun über dem Rammsporn. Weisser Schaum schien das Schiff zu tragen. Es steuerte direkt auf die Brücke zu und drohte, mit einem Pfeiler zu kollidieren. Auf den drei Schiffsdecks hatte sich eine düstere Besatzung versammelt. Die Männer und Frauen, die Gesichter grimmig geschwärzt, wirkten gefasst. In ihren Händen blitzten Hiebwaffen.

I.

«Ich hatte gerade achtzehn Whiskys ohne Eis;
ich denke, das ist der Rekord.»
Dylan Thomas – 9. November 1953

Drei Monate zuvor

Die Strasse war ein gemeines Wippbrett, das ihn unaufhörlich davon abhielt, noch vor Morgengrauen nach Hause zu kommen. Er schwankte über den Asphalt, klammerte sich an das Fallrohr einer Dachrinne und wartete, bis sich die schiefe Ebene vor seinen Augen wieder eingependelt hatte. Mein Gott, so besoffen bin ich seit Wochen nicht mehr gewesen. Ihm war speiübel. Die Zahnräder unter seiner Schädeldecke drehten sich nicht mehr rund, schienen sich verkantet zu haben. Bald müsste ihm der Kopf explodieren.

Er hatte die ganze Nacht im Singerhaus am Marktplatz verbracht, hatte sich unter die Salsakönige gemischt und sich an tanzenden Frauenwaden geweidet. Leider hatte ihm der Alkohol übel zugesetzt und seine Chancen auf ein erotisches Abenteuer jämmerlich vereitelt.

Ein frischer Luftzug strich um die Mauern der Peterskirche und kühlte seine Stauhitze ab. Hinter ihm die über achtzig Treppenstufen des Totengässleins, die er in endloser Anstrengung erklommen hatte. Er tastete nach seinem Hausschlüssel und war erleichtert, als er den spitzen Bund in seiner Hosentasche spürte. Er kratzte sich im Schritt und inhalierte eine weitere Brise feuchtkühler Morgenluft. Um diese Zeit roch Basel noch frisch und unverbraucht.

Er setzte seinen beschwerlichen Heimweg fort, torkelte über den Peterskirchplatz und fiel beinahe über die Eisenstange zwischen den Steinpfeilern. Er zischte vor Schmerz. Sein Schienbein brannte. Gleich würde er kotzen müssen. Er umlief das Geländer und beugte sich hinter einen Baum, wo er sich mit einem heiseren Würgen erleichterte. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er spuckte den bitteren Nachgeschmack aus und taumelte auf eine Bank zu. Land in Sicht! Er plumpste auf die Bank und wischte sich mit einem Taschentuch das Kinn und die Lippen sauber. Von den Kellergittern des Petersschulhauses schienen ihn zwei Entenfiguren zu verspotten. Er revanchierte sich mit einer hässlichen Grimasse und blickte über den schmalen Hof zwischen Kirche und Schulhaus, der sich in Richtung Petersplatz wieder öffnete. Wie ruhig es doch war. Keine Menschenseele weit und breit. Nur er und der Vollmond, den er allerdings nicht sah, sondern nur als treuen Gefährten über sich wusste. Jetzt bloss nicht einschlafen, hielt er sich an. Es trennte ihn nur noch ein Katzensprung von seinem Zuhause. Dort wartete ein leeres Bett auf ihn, ungemacht und kühl, zum Reinkriechen und Ausnüchtern.

Sein Blick wanderte zurück zu der dunklen Baumkrone neben der Kirche. Der Wind hatte aufgehört, mit den welken Blättern zu spielen. Feine Nebelschwaden begannen sich sanft durch das Laub zu kräuseln. Ein wunderbares Schauspiel, wie er fand. Der Nebel schob sich langsam um die Kirchenecke, verdichtete sich und fing an, den Baum zu um-schliessen. Gleichzeitig fiel die Temperatur markant ab. Er setzte sich kerzengerade hin, denn er registrierte, wie sich seine Haare im Nacken sträubten. Ein Schauer glitt ihm über den Rücken. Gefahr im Verzug. Wäre er ein wieselflinkes Tier gewesen, hätte er sich intuitiv in Sicherheit gebracht. So aber rutschte er argwöhnisch zurück, bis er mit seinem Kreuz an einen Steinpfeiler stiess.

Der Baum ächzte und verlor mit einem Mal die letzten Blätter, als seien sie von einem sofort wirkenden Gift besprüht worden. Mit einem leisen Klirren fielen sie auf die Steinplatten. Wieder traten ihm Tränen in die Augen, denn er spürte, dass er sich in einer absolut misslichen Lage befand. Wehrlos und ausgeliefert. Er versuchte aufzustehen, doch seine Beine verweigerten ihm den Gehorsam.

Aus dem Nebel schälten sich langsam Gestalten in ausgebeulten und löchrigen Trachten. Dort, wo sich Augen, Nasen und Ohren hätten befinden müssen, stierte er entsetzt auf Löcher und schmale Schlitze. Wo sich Haut über das Fleisch hätte spannen sollen, erblickte er nur blanke Knochen. Die Todesgestalten kamen direkt auf ihn zu, fünf Skelette in Schauben und Röcken. Zwei von ihnen verschleiert, zwei mit einem Mühlsteinkragen unter den eckigen Kiefern. Er hielt die Luft an und gelobte aufgewühlt, keinen einzigen Tropfen Alkohol mehr anzurühren. Eine unsichtbare Kraft drückte ihm plötzlich die Gurgel zusammen. Seine Zunge wurde aus dem Rachen gepresst und schien an seinen Lippen festzufrieren. Dem Erstickungstod nah, zuckte er nur noch mit den Lidern, zu keiner anderen Reaktion mehr fähig. Selbst die Peterskirche vermochte ihn nicht zu schützen!

«Oh Gott», wimmerte er. Wenn dies alles nur ein Traum sein soll, dann lass mich aufwachen aus diesem grauenhaften Schlaf. Die kostümierten Skelette schlenderten an ihm vorbei. Sie ignorierten ihn, schienen einfach nur ihren Weg gehen zu wollen. Denn hinter ihnen tauchten weitere Gestalten auf: ein Heer von Toten, stumm, hohlwangig, aber nicht skelettiert. Der makabre Spuk entfaltete seine ganze Tiefe. Er sah Bauern in alten Wämsern, bandagierte Soldaten mit fehlenden Gliedmassen und hagere Frauen mit Hauben. Eine Mutter hatte ihre eingefallenen Knaben je an eine Hand genommen. Einer blickte hungrig an ihr hoch.

Die Prozession überquerte nun lautlos und mit betäubender Kälte den Peterskirchplatz. Keiner der Gestalten hatte ihn bemerkt. Niemand sah sich nach ihm um. Er würde hier ganz allein sterben. Kein Mensch da, um ihn zu retten. Kein Mensch da, um sich verabschieden zu können. Unverhofft löste sich seine Zunge wieder. Das Gefühl kam in seine Lippen zurück. Er japste nach Luft, riss den Kopf herum und beobachtete ungläubig, wie der gespenstische Zug durch das Totengässlein entschwand, den eisigen Nebel wie eine Schleppe hinter sich herziehend. Der Tod hatte ihn gestreift, aber nicht fortgerissen. Sein Hals schmerzte, als hätte ihm jemand glühende Kohlen in die Speiseröhre geschoben. Er musste sich erneut übergeben. Anschliessend versuchte er nur ansatzweise zu begreifen, was ihm gerade widerfahren war. Das Hämmern in seinem Schädel beeinträchtigte sein Denkvermögen. Quälendes Pochen von allen Seiten. Letztlich schien ihm nur von Bedeutung, dass er den Zwischenfall überlebt hatte; das sprichwörtliche Glück eines Betrunkenen. Er kam sogar zu der Überzeugung, dass ihm jemand eine verbotene Substanz in den letzten Gin Tonic geschüttet haben musste. Vermutlich K.-o.-Tropfen. Davon hatte er schon gehört: eine Art Narkotikum, welches die Opfer handlungsunfähig oder gar besinnungslos machen konnte. Er kontrollierte seine Gesässtasche. Das Portemonnaie war noch da. Bestohlen hatte man ihn nicht. Nein, so schnell liesse sich einer wie er nicht über den Tisch ziehen. Er hatte schon Schlimmeres überstanden: einen Darmverschluss, Prügeleien, Unfälle mit gebrochenen Rippen. Sein Lachen prallte von den Wänden auf ihn zurück. Wieder spürte er einen Stich in der Brust. Er riss sich das Hemd auf und drehte panisch den Kopf. Nein, die Gespenster kehren nicht zurück. Halt durch, mein Freund! Jemand wird dich finden.

Er begann erneut zu schwitzen. Er fühlte sich nackt und schutzlos, als wären alle Schalenteile mit einem Mal von ihm abgefallen. Er keuchte, fasste sich an die Brust und kippte auf die Bank. Die Fratze des Todes war grässlich.

II

«Mehr Licht!»
Johann Wolfgang von Goethe – 22. März 1832

Eduard Salzmann stand am Fenster einer leeren, frisch gestrichenen Wohnung und konsultierte seine goldene Armbanduhr. Es war Viertel nach zwölf, und er war übellaunig, weil sein Magen knurrte. Hinter ihm tigerte seine Frau durch den Korridor. Sie telefonierte mit dem Elektriker, der vor fünf Minuten in die Mittagspause gegangen war, aber den Lichtschalter im Schlafzimmer nicht wie vereinbart mit einem Dimmer versehen hatte. Die Schutzfolien der Maler lagen überall über dem kostbaren Eichenparkett. Dafür hatten die Wände endlich den Geruch der frischen Farbe angenommen und den alten Mief von gelebten Jahrzehnten aus den Räumen verbannt.

Draussen vor dem Haus bemerkte er einen Mann, zirka vierzig Jahre alt, in einer dunkelblauen Wolljacke, mit rotblondem, widerspenstigem Haar und einer kräftigen Nase. Neben ihm, vergleichsweise geradezu grazil und schmächtig, eine Jugendliche in engen Jeans und einer olivgrünen Jacke. Der Mann vergewisserte sich auf einem Notizzettel nach der richtigen Adresse und suchte nach der übereinstimmenden Hausnummer.

«Unsere Gäste sind da», rief Salzmann zu seiner Frau.

Sie beendete das Gespräch und stellte sich neben ihn ans Fenster.

«Der Typ da mit der Sturmfrisur?»

Salzmann nickte.

«Und wer ist das Mädchen?»

«Vermutlich die Tochter.»

«Sieht etwas unsicher aus. Und wo ist die Mutter?»

«Das kannst du ihn gleich selbst fragen», schlug er vor und ging zur Wohnungstür. Just in diesem Moment erklang ein aufdringliches Schrillen. Er öffnete die Tür und wartete, bis die beiden ihre Sohlen auf dem Schuhteppich abgerieben hatten.

«Herr Blum?», sagte er. «Salzmann mein Name. Wir haben miteinander telefoniert.» Er streckte Blum die gebräunte Hand mit dem Goldkettchen entgegen.

Der Rothaarige ergriff die Hand und stellte danach seine Tochter vor. Das kleine Grübchen im Kinn war die einzige Übereinstimmung, die Salzmann zwischen den beiden feststellen konnte.

«Freut mich», erwiderte er. «Sie haben den Weg also gefunden!» Noch so eine überflüssige Floskel, wie er selbst wusste. «Aber bitte, treten Sie doch ein. Ich hoffe, Sie haben ein gutes Vorstellungsvermögen, denn wir haben noch immer die Handwerker im Haus.»

Victor Blum und seine Tochter schlüpften in die Wohnung, wo sich inzwischen auch Frau Salzmann zur Begrüssung angestellt hatte. Sie lächelte kühl und musterte die beiden mit dem geschulten Auge einer mehrfachen Hausbesitzerin, die schon Hunderte von Mietern geprüft und für nicht würdig befunden hatte. Die beiden machten ihr soweit einen positiven Eindruck, auch wenn ihr die Kombination von Vater und Tochter ungewöhnlich vorkam. Aber sie würde die Gelegenheit noch finden, um den Vater auf die familiäre Situation anzusprechen.

«Sie waren ja auf die Minute pünktlich», bemerkte Herr Salzmann in einem Ton, der die beiden glauben lassen sollte, dass er ihnen eine leichte Verspätung nicht übel genommen hätte. Das Mädchen schwieg. Ihr Vater erwiderte, dass Pünktlichkeit für ihn schon rein beruflich unabdingbar sei.

Wo er denn arbeiten würde, hakte Doris Salzmann nach.

Er sei Versicherungskaufmann.

«Gut zu wissen», sagte Salzmann. «So was kann vielleicht mal von Nutzen sein.» Er stiess ein gackerndes Lachen aus, das, verstärkt durch die leeren Räume, viel zu aufgesetzt klang. Er führte die beiden ins Wohnzimmer.

«Das ist das grösste Zimmer», erklärte er. «Zwanzig Quadratmeter, Eichenparkett, Originallamperien an den Wänden und mit einer stilvollen Deckenstuckatur. Sehen Sie die Rosette in der Mitte? Bezaubernd, nicht wahr? Heute wird das ja kaum mehr gemacht. Aber hier ist alles noch im Originalzustand. Nur die Heizungen sind neu.» Er wies auf ein paar mit Wolldecken geschützte Heizkörper.

«Wie viele Wohnungen hat dieses Haus?», fragte Blum und starrte an die Decke, als könne er mitten durch sie hindurch in die oberen Geschosse sehen.

«Es sind im ganzen zwei Parteien.»

«Jüngere oder ältere Leute?»

Salzmann zog die Achseln hoch und drehte sich überfragt zu seiner Frau. «Ach Gott, Doris, was meinst du?»

Seine Gattin trat nicht nur symbolisch vor ihren Mann. Sie rieb sich das Kinn und schien den Steilpass ihres Gatten auszukosten. Dabei nickte sie bedächtig, als würde sie die Information, die sie bereit war, weiterzugeben, nochmals sorgfältig abwägen. «Die Eheleute Schubert sind um die dreissig. Ist das von Bedeutung für Sie?»

Blum verneinte. «Es kann helfen, aber das Alter allein sagt natürlich nichts über die Geselligkeit oder die Toleranz eines Menschen aus.»

«Richtig», stimmte sie zögernd zu. «Richtig.» Das Wort Toleranz liess ihre Alarmglocken läuten. Warum Toleranz? Hat dieser Blum vielleicht ein aneckendes Hobby? Eine Krankheit? Schlechte Angewohnheiten? Späte Gäste? Viel Verkehr? Eine uneheliche Tochter? Ihre Neugier war geweckt. Das Warmlaufen war abgeschlossen. «Sind Sie Musiker?»

Er winkte lachend ab. «Ich? Nein, ich bin absolut unmusikalisch.»

«Aber Ihre Tochter vielleicht?»

Die Jugendliche schüttelte verlegen den Kopf.

«Schade», gab sich Frau Salzmann enttäuscht. «Den Musiker hätte ich Ihnen durchaus abgenommen.» Sie schielte unverhohlen auf seinen Haarwuchs.

«Nein, da können wir leider nicht dienen.»

Sie verzog die Mundwinkel. «Tja, das wäre wohl zu schön gewesen. Denn wissen Sie, Herr Blum. Dies ist ein Haus der Künste.»

Er hob die Augenbrauen: «Ein Haus der Künste. Wie soll ich das verstehen?»

«Nun, die Schuberts spielen im Sinfonieorchester Basel. Und der Vormieter dieser Wohnung war ein bekannter Maler, ein gewisser Herr Urban Graber.» Sie liess den Namen wirkungsvoll stehen, als wäre er das letzte Wort einer Lesung. Da der Name jedoch nicht die gewünschte Reaktion auslöste, ergänzte sie: «Sicher haben Sie schon von ihm gehört?»

«Nein, nicht dass ich wüsste.»

«Oder sein altes Namensschild an der Türklingel bemerkt?», wollte Herr Salzmann nachhelfen.

«Nein, auch nicht.»

«Nicht weiter schlimm», wiegelte Frau Salzmann ab. «Er ist vor ein paar Monaten verstorben. Man konnte es in der Zeitung lesen.»

Er nickte vorsichtig. «Ja, jetzt erinnere ich mich vage.»

Sie sah ihn prüfend an. «Wir möchten das Schild so lange hängen lassen, bis wir uns entschieden haben, wer hier einzieht.»

«Okay, verstehe.» Er versuchte höflich zu lächeln, was ihn aber sichtbar anstrengte. Dabei entstand eine Pause, die unangenehm für alle war.

Herr Salzmann räusperte sich und führte die beiden ein Zimmer weiter, zum Schlafzimmer, wie er es bezeichnete. Dieser Raum war deutlich kleiner, und die Rosette an der Decke suchte man hier auch vergebens. Vater und Tochter durchmassen den Raum in langen Schritten und trafen sich wieder beim Fenster. Erneut blickten sie auf den Spalentorweg. Die kleine Strasse war nicht stark befahren, war eine schmucke Nebenstrasse mit kleinen, gepflegten Häusern und sauber einparkierten Autos. Vermutlich diente sie aber bei Stosszeiten als Schleichweg für ungeduldige Pendler, die dem meterlangen Stau im Schützengraben entfliehen wollten.

«Gleich gegenüber befinden sich das Atelier und die Küche», führte Salzmann weiter aus, und zwang seine Besucher durch sein Weglaufen, ihm zu folgen. Seine Frau beobachtete, wie Blum seiner Tochter einen bedeutungsvollen Blick zuwarf. Sie betraten nun einen Bereich, der einen separaten Ausgang zum Garten sowie ein altes, mit Farbrückständen überzogenes Waschbecken besass. Neben den kahlen Wänden wirkte es wie ein detoniertes Kunstobjekt, ein Farbsprenger, der ungestüm gegen Staub und Verputz rebellierte. Frau Salzmann zog schniefend die Luft ein und konnte nicht verbergen, dass ihr der Geruchmix aus Mörtel, unzähligen Zigarettenpausen und kaltem Kaffee nicht sonderlich behagte.

«Hier also hat der Maler seine Bilder geschaffen?», hallte Blums Stimme durch den Raum.

«Ganz recht», sagte Herr Salzmann. «Aber nicht alle. Herr Graber besass noch ein weiteres Atelier im Elsass. Dort hat man übrigens auch seine Leiche gefunden. Um es also klarzustellen: Gestorben ist hier keiner. Darauf lege ich Wert. Sie sind doch nicht abergläubisch, oder?»

Frau Salzmann registrierte ein diskretes Kopfschütteln der Tochter, worauf der Vater entschieden mit «Nein» antwortete.

«Gut», sagte Herr Salzmann, «vielen missfällt nämlich die Vorstellung, die Wohnung eines Verstorbenen zu übernehmen, obwohl natürlich, nüchtern betrachtet, kein Grund für eine solche Befangenheit bestehen muss. Ich meine, das ist doch der natürliche Lauf der Dinge. Menschen sterben, und sie sterben nun mal oft in ihren Wohnungen. Oder sehen Sie das anders?»

«Nein, nein», sagte Blum, «ich bin ganz Ihrer Meinung.»

«Gut. Dann zeige ich Ihnen jetzt die Küche und zum Schluss das Bad. Wenn Sie mir bitte folgen würden. Wir haben übrigens einen Steamer.»

Der Vater ging mit Herrn Salzmann eine Tür weiter. Das junge Mädchen verweilte noch etwas im Atelier. Sie liess sich Zeit, befühlte die Wände und achtete auf kleine Details wie die schwarzen, gusseisernen Fensterknäufe oder den italienischen Terrazzo-Steinboden unter dem Waschbecken, der sich vom Zimmereingang bis zur Gartentür erstreckte und das Atelier optisch in zwei Bereiche teilte. Frau Salzmann behielt sie scharf im Auge. Diese Jugendliche war seltsam. Sie schien jeder Einzelheit Bedeutung beizumessen und den Raum wie erspüren zu wollen. Das Mädchen ging in den Garten hinaus und schritt vorsichtig über zerbrochene Steinplatten. Sie spreizte ihre Finger ab und berührte die Spitzen der ungepflegten Büsche, die ihr bis ans Knie reichten. Schliesslich blieb sie vor einer krummen, ausgehöhlten Rosskastanie stehen. Auch hier tastete sie zärtlich über die morsche Rinde, als würde sie den greisen Baum nicht aus seinem Kummerschlaf wecken wollen. Über ihr hingen Äste, schwer gebeugt von den Früchten längst vergangener Jahre und stümperhaft gestutzt. Und während die Jugendliche auf Tuchfühlung mit dem Baum ging, lehnte sich Frau Salzmann fasziniert an den Türrahmen, die fleischigen Füsse in goldene Mokassins gezwängt.

«Hier geht es zum Garten», rief ihr Mann und öffnete die Tür nebenan. «Ich sage es ohne Umschweife. Hier wurde seit Jahren nichts mehr gemacht. Graber wehrte sich erfolgreich gegen jeden Versuch, Pflanzen und Sträucher zu stutzen. Es war sein persönliches Kleinod mitten in der Stadt. Hier hatte er sich immer wohlgefühlt. Vor allem der tote Baum da hatte es ihm angetan.»

«Aber der sieht doch noch gut aus», erwiderte Blum.

«Lassen Sie sich nicht täuschen. Der Stamm ist alt und morsch. Ich würde da weder hochklettern noch etwas dranhängen. Wir werden ihn fällen lassen.»

«Er war übrigens Urbans Lieblingsmotiv», ergänzte Frau Salzmann. «Er hat ihn immer wieder auf Bildern festgehalten und dies zu allen Jahreszeiten. Eines hängt sogar bei uns im Haus.»

«Alles in Ordnung, Thea?», rief Blum in den Garten.

Die Tochter hob nur die Hand.

«Wie alt ist sie?», fragte Frau Salzmann.

«Im März wird sie sechzehn.»

«Reizend.»

«Aber gewiss nicht immer.»

«Es ist das schwierigste Alter», bestätigte sie.

«Sie haben auch Kinder?»

«Zwei Söhne», verkündete Herr Salzmann mit Vaterstolz.

«Doch beide sind längst ausgeflogen», fügte sie an und dachte laut nach. «Die Wohnung könnte eng werden für drei Personen.»

Blum strich sich durch das widerspenstige Haar. «Wir sind nur zu zweit.»

«Zu zweit?» Sie tat irritiert.

«Ich bin geschieden. Meine Frau lebt in Frankreich und ist dort sehr … sagen wir mal sehr ausgefüllt.»

«Interessant», murmelte sie.

«Thea und ich bilden schon seit ein paar Jahren eine Vater-Tochter-WG. Und Sie werden es nicht glauben, sie funktioniert sogar. Thea geht – nebenbei erwähnt – ins Gymnasium Leonhard. Das wäre ja nicht weit von hier.»

«Ja, das stimmt», pflichtete sie ihm bei. Sie machte eine Pause und zog den entscheidenden Moment in die Länge. Sie genoss es, die Bewerber zappeln zu lassen. Denn sie wollte es von ihnen selbst hören. Sie wollte hören, wie charmant und authentisch die Wohnung sei, wie gut die zentrale Lage gefallen würde und wie fair die Höhe der Miete festgelegt worden war. Dieser Zeitpunkt war nun zweifellos gekommen.

Doch der Mann mit der markanten Nase schien sich mehr für seine Tochter zu interessieren. Sie solle sich beeilen, rief er in den Garten. Die Leute hätten nicht ewig Zeit.

Die Jugendliche kam auf sie zu. Eine magere, hellhäutige Erscheinung mit einem schwer interpretierbaren Blick und kastanienfarbenem Haar, das sie sich von Zeit zu Zeit hinter die Ohren schob.

«Haben Sie noch Fragen?», dröhnte Herr Salzmann durch die leere Küche.

«Nein, für den Moment nicht.»

«Gut, dann sollten Sie noch dieses Formular ausfüllen. Natürlich unverbindlich und nur für den Fall, dass Sie ernsthaft an der Wohnung interessiert sind.»

Blum kratzte sich unter dem Kragen seines hellen Hemdes. «Kann ich das Formular auch mitnehmen?»

«Sie sind sich also nicht sicher?», bemerkte Frau Salzmann spitz.

Er wirkte durchschaut, erklärte aber: «Doch. Das heisst, nein. Ich finde nur, gut Ding will Weile haben.»

«Füllen Sie es einfach aus», bestimmte sie. «Wenn Sie es sich später noch anders überlegen, haben Sie nichts verloren.»

Er nickte einsichtig, beugte sich über die Arbeitsfläche der Küchenkombination und drückte mit einem Kugelschreiber seine Personalien auf das Papier.

«Danke sehr», sagte Herr Salzmann, während er das Blatt an sich riss und es kurz überflog. «Falls Sie in die engere Wahl kommen, müssten wir dann noch einen Betreibungsregisterauszug von Ihnen haben.»

«Ist das wirklich nötig?», fragte Blum. «Ich meine, ich bin nicht verschuldet oder so, aber …»

«Das ist nötig!», meinte Herr Salzmann und legte das Formular in ein Klarsichtmäppchen. «War mir eine Freude, Herr Blum!»

«Ganz meinerseits», log er zurück. Er berührte sanft die Hüfte seiner Tochter und führte sie mit leichtem Druck aus der Wohnung.

Herr Salzmann schloss die Tür und ging ans Fenster. «Reine Zeitverschwendung», murrte er, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich die beiden ein gutes Stück vom Haus entfernt hatten. «Da war keine Begeisterung, kein Feuer, kein Wille. Und hast du sein Gesicht gesehen, als ich ihm von Urban Graber erzählt habe?»

«Das hat nichts zu bedeuten.»

«Wieso?»

«Andere haben ähnlich reagiert.»

Er verstaute das Sichtmäppchen in der Ledertasche und liess das Schloss einschnappen. «Er hat dir wohl gefallen?»

«Wie bitte?»

«Kräftig, breite Nase und wildes Haar.»

«Er? Nein. Aber das Mädchen.»

Er zuckte zusammen, als wäre ihm gerade ein Insekt ins Ohr geflogen. «Das Mädchen? Dieses junge Gemüse?»

«Sie würde gut in diesen Garten passen, findest du nicht?»

Er lachte abgehackt. «Dieser Garten ist ein Eldorado für Unkraut. Hier passt höchstens ein grosser Schaufelbagger her. Und danach ein feiner, englischer Rasen.»

Sie hatte ihre Arme verschränkt und liess den Blick über die verwilderte Fläche schweifen. «Nein!», sagte sie. «Wir brauchen das nicht zu überstürzen.»

«Aber wir überstürzen doch nichts. Wir haben ja noch fünf weitere Interessenten. Die schauen wir uns in Ruhe an. Und jetzt lass uns essen gehen. Ich hab ein Loch im Bauch.»

Thea schob ihr Fahrrad neben ihrem Vater her. Sie konnte bereits das Spalentor sehen, den Namensgeber für die kleine Strasse, deren Ende sie schon fast erreicht hatten. Seit ihren Erlebnissen vor ein paar Wochen hatte das markante Tor mit dem spitzen Dach und den runden Wehrtürmen eine neue Bedeutung für sie gewonnen. Es war nicht mehr länger der Ort ihres Unfalls oder das Symbol ihrer Schmerzen und Narben, sondern fortan ein Bild für ihre neue Lebenskraft. Es war das Mahnmal ihrer zweiten Chance. Das war ihr nach den letzten, dramatischen Ereignissen deutlich klar geworden. Sie mochte das Tor, und der Gedanke daran, vielleicht ganz in der Nähe wohnen zu können, war ihr eine schöne Vorstellung.

«Das war wohl nichts», wetterte Blum. «Zu teuer für die Wohnfläche und sehr unsympathische Leute.»

«Aber der Garten», widersprach sie.

Er hustete in seine Faust. «Der Garten? Ein struppiger Unort! Was glaubst du, wie viel Arbeit so ein Garten macht? Und so viel ich weiss, sind weder du noch ich passionierte Hobbygärtner.»

«Aber das wussten wir doch schon vorher.»

Sein Tonfall wurde strenger. «Ja, nur dieser Garten spottet jeder Beschreibung. Er ist ein garstiges, hässliches Dickicht und … Autsch, verdammt!»

Thea musste reflexartig ihr Fahrrad festhalten, denn ihr Vater war an einem Pedal hängen geblieben und wäre fast gestürzt. Er wechselte schnaubend auf Theas Seite rüber. «Ausserdem», sagte er, «stehen wir nicht unter Zugzwang. Bei einer neuen Wohnung muss einfach alles stimmen. Man spürt so was gleich. Die ideale Wohnung macht gute Laune. Man schliesst sie ins Herz. Man kann sich die Zukunft darin vorstellen und ahnt bereits, wie man alles einrichten würde. Erst wenn dieses Gefühl eintritt, weisst du, dass es die richtige Wohnung ist.»

Sie kam direkt auf den Punkt. «Sie ist dir also zu klein.»

«Ähm, ja», gab er zu. «Oder wärst du etwa mit dem kleineren Schlafzimmer zufrieden?»

«Wieso Schlafzimmer? Ich nehm das Atelier!»

Wieder hatte sie ihn auf dem falschen Fuss erwischt. Er sagte nicht sofort Nein. Es kam erst ein paar Sekunden später. «Finde ich nicht gut.»

«Warum denn?»

«Es ist kalt, abweisend und unfreundlich.»

«Origineller Grundriss und direkter Gartenzugang», hielt sie dagegen.

«Aber praktisch für Einbrecher.»

«Du kennst sicher ein gutes Alarmsystem.»

«Viel zu chaotisch!»

«Kein Problem für mich.»

«Zur Hälfte Steinboden.»

«Aber mit fliessend Wasser im Zimmer!»

Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen und ringte um die Unterstützung von Zeugen, die nicht vorhanden waren. «Nein, Thea. Ich mag auch diese Leute nicht.»

«Mit denen haben wir doch gar nichts zu tun.»

«Das glaubst du! Verordnungen im Hausflur, Mietverträge, monatliche Waschpläne und dann zu Weihnachten das übliche kleine Präsent mit einer höflichen Dankeskarte.»

«Ich finde die Wohnung cool.»

«Cool?», stiess er spöttisch aus. «Ja, im Winter, wenn der Frost an den Scheiben kratzt und der Garten verschneit ist.»

«Das stelle ich mir romantisch vor.»

Er biss sich auf die Lippen. Argumente müssen her, schnell!

«Bitte, Victor», sagte sie.

Victor? Er konnte es nicht ausstehen, wenn sie ihn «Victor» nannte. Er war ihr Vater, nicht Victor. Wem sonst hätte sie «Vater» sagen dürfen? Er fand sogar, er hatte das uneingeschränkte Recht, ihr Papa zu sein.

«Bitte, Papa», setzte sie leise nach, als hätte sie seine Gedanken erraten.

Sein Groll löste sich so schnell auf, wie er gekommen war. Er begann sich zu winden.

«Aber ich müsste auch den Parkplatz aufgeben.» Kein neuer Gedanke zwar, aber einer, der ihm schwerfiel.

Sie hängte sich an seinen Arm. Er wankte innerlich. Bald würde er fallen. Sie erreichten die Kreuzung vor dem Spalentor. Thea schaute kurz zum Tor hoch und betrachtete die bunten, rautenförmigen Muster der Dachziegel. Zusammen mit dem blauen Himmel ergab das eine farbenprächtige Komposition. Nur das Verkehrsrauschen trübte das Bild und erinnerte hartnäckig daran, wo sie sich befanden – an einer dicht befahrenen Kreuzung ausserhalb des Stadtzentrums.

«Wir müssen nicht zwingend aus der alten Wohnung raus», seufzte Blum, und es schwang eine Schwere mit, die sich noch immer nicht zwischen einem Neuanfang und der altbewährten Situation entscheiden konnte.

«Wir brauchen eine Veränderung», sagte sie ernst.

«Oh, ich hatte zuletzt genug Veränderung», hielt er entgegen.

Sie wusste, worauf er abzielte, aber darüber wollte sie jetzt nicht reden. Sie blieb konsequent beim Thema. «Jedes Mal, wenn ich an Kilians Zimmertür vorbeikomme, tut es weh. Ich will seine Spielsachen nicht mehr sehen, seine Kleider nicht und auch nicht seine Möbel. Es soll aufhören, Papa. Es soll nicht ständig wehtun. Wir müssen weg, und wenn es nur ein paar Häuser weiter ist.»

Er presste ihre Schulter an seine. «Wir werden das ändern. Ich verspreche es dir. Aber lass uns nicht kopflos handeln.»

Die Ampeln wechselten der Reihe nach von Rot auf Grün. Sie überquerten die Strasse und passierten das massive Vorwerk des Tores. Sie ignorierten den Uringeruch, der dort über Nacht eingesickert war. Das Tor war ein imposanter Eingang zur Spalenvorstadt mit ihren schmucken Altbauten und den kleinen, charmanten Läden. Thea spiegelte sich in den Schaufenstern.

III

«Triff mich in den Bauch!»
Agrippina – 59 n.Chr.

Das Mittagessen machte sie träge. Trotz gründlichem Zähneputzen war sie den Dottergeschmack in ihrem Mund nicht losgeworden.

Ihr Vater hatte die alten Kartoffeln durch die Raspel getrieben und in einer Pfanne zu einer goldenen Rösti gebraten. Sie kochte daneben einen Blattspinat auf und schnitt ein Vollkornbrot in schmale Streifen. Abschliessend hatte ihr Vater zwei Spiegeleier über die Röstikrusten gelegt. Sie wechselten ein paar unverfängliche Worte über das Wetter, die Schule und das kommende Wochenende. Nur über die Wohnung hatten sie nicht mehr gesprochen. Sie wussten, dass sie bei Meinungsdifferenzen die Sache lieber ruhen lassen sollten. Später würde Thea das Thema wieder aufgreifen. Es war beileibe nicht das einzige Thema, das auf diese Weise in ihrem Bauch rumorte und wie ein Schluckauf bekämpft werden musste. Manchmal gelang es ihr meisterlich. Und manchmal hätte sie sich am liebsten übergeben. Gerade dies machte das Zusammenleben mit ihrem Vater so schwierig. Er war so krampfhaft bemüht, Disharmonien in ihrer Beziehung zu unterdrücken. Er wollte sie nicht auch noch verlieren. Und doch würde genau dieser Umstand eines Tages eintreten.

«Bist du heute wieder mit Kerstin unterwegs?», fragte er.

«Klar.»

Er nickte vorsichtig. Er traute der Freundin seiner Tochter noch immer nicht, auch wenn er sich Mühe gab, seine Vorbehalte hinter der kulant wirkenden Fassade eines Vaters zu verbergen. «Wann kommst du wieder nach Hause?»

«So gegen elf.»

«Nein, um zehn», korrigierte er.

«Ich bin sechzehn!»

Er klimperte mit den Wimpern. «Noch nicht.»

Sie einigten sich auf halb elf. Er hatte auf die Teller gedeutet und sich anerboten, das Geschirr nach seinem Mittagsschlaf allein wegzuräumen.

Thea hatte ihre Zähne vom Eigelb befreit und sich auf den Schulweg gemacht. Meistens fuhr sie mit ihrem Fahrrad über die Lyss und dann die Strassenbahn entlang. Die Fahrt dauerte gewöhnlich keine fünf Minuten. Doch in den letzten Wochen flanierte sie lieber über den Heuberg, eine friedliche, schmale Seitengasse oberhalb des Stadtzentrums. Dort erfreute sie sich an den schmucken, alten Gebäuden mit ihren krummen Fensterläden, den Gauben und den Lastzügen unter den auskragenden Dachfirsten. Es war wie ein Abtauchen in das Gestern der Stadt und liess sie für kurze Zeit in lebhaften Erinnerungen schwelgen. Sie war die Wiedergängerin. Sie war in Welten vorgedrungen, die sonst nur den Körperlosen vorbehalten waren. Sie war zwischen Raum und Zeit geraten, hatte dem Tod in die Augen gesehen und ihn letztlich bezwungen. Sie streifte sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und teilte mit der Hand den kalten Wasserstrahl eines Brunnens. Sie lächelte, als ihr das kühle Wasser verdeutlichte, dass sie lebte, dass sie fühlte und dabei fröstelte. Sie hatte sich mit dem Schicksal versöhnt. Sie hatte sogar eine Gabe erhalten, die sie pflegen und erweitern wollte.

Kerstin sass auf der anderen Strassenseite in einem Hauseingang. Thea sah nur ihre eingedrehten Beine, die in grossmaschigen Netzstrümpfen in den Gehsteig hinausragten. Sie gab den rubinroten Skullboots am Ende der Beine einen sanften Tritt, und ein schlaksiger Oberkörper schoss fauchend auf. Kerstins Miene entspannte sich sofort wieder, als sie Thea erblickte. Sie schob den Kopfhörer in ihren Nacken und reichte ihr die blasse Hand. «Hi.»

«Hi», grüsste Thea ebenso knapp.

«Nicht mal die Ramones bringen mich heute auf Touren», stöhnte Kerstin.

«Du siehst ziemlich käsig aus.»

Kerstin schien sich einen Augenblick auspendeln zu müssen, bis sie ihren Stand gefunden hatte. Sie überragte Thea um einen ganzen Kopf. Thea sah ihr deshalb beim Gehen meistens nur auf die Schulterpartie ihres abgeschabten Ledermantels.

«Danke, ich freu mich auch, dich zu sehen», sagte Kerstin und stakste in Richtung Schulhaus.

«Wenn du mich fragst», begann Thea vorsichtig, «solltest du nachts einfach mehr schlafen.»

«Nein, es liegt am Tageslicht. Es bekommt mir einfach nicht.»

Thea winkte ab. Ihre Freundin hatte einen völlig anderen Lebenswandel als sie. Unter diesen Umständen wunderte sie sich sogar, dass Kerstin um diese Tageszeit überhaupt noch auf den Beinen stand.

«Ich war verabredet», gestand Kerstin.

«Du? Ein Date? Mit wem?»

Sie kratzte sich am Hinterkopf. «Na, mit wem wohl? Hirn einschalten, Kleines!»

Thea konnte es nicht leiden, wenn Kerstin in ihr altes Verhaltensmuster zurückfiel und sie von oben herab behandelte. Schon rein aus Trotz verweigerte sie eine schlaue Antwort. «Ich weiss es nicht. Sag es mir doch einfach.»

«Es war Vollmond. Alles klar?»

Endlich fiel der Groschen. Vollmond bedeuete für Kerstin Freinacht. «Und jetzt bist du voll durch?»

«Nein.» Kerstin grinste und zeigte ihre kurz gewachsenen Vorderzähne. «Dazu braucht es schon mehr. Die Nachtreiterin hat wieder Kräfte getankt.»

«Gut für dich, denn heute steht noch eine Prüfung an, Nachtreiterin.»

«Nichts, was mich beunruhigen müsste.»

«Du nimmst das viel zu locker», hielt ihr Thea vor. «Ich will nicht, dass du am Ende sitzen bleibst.»

«Hallo?», rief Kerstin aus. «Bist du jetzt auch meine Mutter?»

«Lieber nicht.»

«Dann lass mich leben!», schnaubte sie.

«Es ist nur … Ach, vergiss es.»

Kerstins weisse Hände verschwanden in den dunklen Manteltaschen. «Ich krieg das schon hin. Na, los! Frag mich was!»

Thea verdrehte die Augen. «Was denn?»

«Na, irgendwas. Mach schon!»

«Was sind die Merkmale einer Tanzfliege?»

Kerstin überlegte. «Eine Tanzfliege, ja?» Sie pfefferte mit der Stahlkappe ihres Stiefels eine leere Bierdose über die Strasse. «Das sind kleine Raubfliegen, meist bräunlich, packen ihre Beute in der Luft und saugen sie aus. Vor der Paarung tanzen sie in Schwärmen über feuchten Waldlichtungen. Die Männchen überbringen den Weibchen ein kleines Hochzeitsgeschenk: lebende Insekten, manchmal grösser als sie selbst. Man stelle sich das einmal vor. Und während es die beiden Tanzfliegen miteinander treiben, labt sich das Weibchen am Geschenk ihres Verehrers. Ich liebe diese Insekten.»

Thea gab sich gleichmütig. «Was ist der Unterschied zwischen einem Hundertfüssler und einem Tausendfüssler?»

«Ha!», rief Kerstin. «Der Tausendfüssler isst in der Regel vegetarisch, der Hundertfüssler hingegen ist ein Räuber mit zwei grossen Giftklauen, die er seinen Opfern in den Körper schlägt. Noch weitere Fragen?»

Thea schwieg. Sie hatten den Eingang des Gymnasiums Leonhard erreicht, einst eine reine Mädchenschule, heute ein durchmischtes, urbanes Schulhaus hoch über dem Barfüsserplatz mit einem geschwungenen Dachgiebel und einem kleinen Uhrturm.

Auch wenn Kerstin nur ungern zur Schule ging, am Gebäude lag es nicht. Sie preschte durch eine Ansammlung rauchender Schüler, die neben dem Schuleingang Kippen zertraten. Dabei stiess sie einem Gymnasiasten in den Rücken und erntete ein paar üble Beschimpfungen. Thea war es peinlich. Sie rutschte hinter Kerstin durch und gelangte in die burgähnliche Eingangshalle, vor ihr der steinerne Treppenaufgang mit dem dreiteiligen Wandbild junger Menschen: LICHT – LIEBE – LEBEN. In der Halle ging es zu wie in einem Bienenstock. Hier strömten sie aus allen Richtungen zusammen, die unzähligen Schüler, die sich plappernd auf den Weg in ihre Fachzimmer machten. All die Jungs mit ihren prallen Schulsäcken, die ihnen viel zu tief im Kreuz hingen, oder die Mädchen, die sich ständig die Träger ihrer schmucken Taschen auf die Schultern zurückstreifen mussten. Es war ein hektischer Moment und im völligen Widerspruch zur Ruhe, welche das dreiteilige Wandbild mit den musenhaften Gestalten ausstrahlte.

Kerstin drehte sich stirnrunzelnd um. «Welches Fach kommt jetzt?»

«Mathe», sagte Thea.

«Grosse Scheisse.» Kerstin griff sich in die wilden schwarzen Fransen.

Thea ahnte sofort, was los war. «Du hast die Hausaufgaben vergessen, nicht wahr?»

«Ich hab mich ganz auf Bio konzentriert», sagte sie so leise, dass es mehr wie ein Selbstgespräch klang. Da sie mitten auf der Treppe stehen geblieben war, verursachte sie einen Volksstau. Kerstin wurde es nicht leid, die vorwurfsvollen Blicke der Nachdrängelnden mit einem Fauchen zu quittieren. Und tatsächlich, sie teilte den aufrückenden Schülerstrom wie Moses das Meer.

«Du leihst mir doch sicher dein Blatt?», fragte sie.

«Ja, nur lass uns jetzt endlich weitergehen. Wir stehen hier wie Idioten im Weg.»

Kerstin zuckte mit den Achseln und stampfte die Treppe hoch, derweil Thea das Matheheft aus der Tasche kramte und nach dem Aufgabenblatt suchte. Kaum im zweiten Stock angelangt, erklang auch schon das Unterrichtssignal.

«Das wird nicht reichen», befürchtete Thea.

«Ausser wenn sich Steger verspätet.»

Wie auf Kommando eilten die Mädchen los und schossen durch die langen Korridore bis zum Ende des Schulhauses, wo sich die 2c bereits für den Mathematikunterricht versammelt hatte. Vom Lehrer fehlte noch jede Spur. Kerstin riss Thea das Aufgabenblatt aus der Hand, liess sich zu Boden fallen und begann, ihre Resultate in einer schon rein optisch schmerzhaften Haltung abzuschreiben. Thea stand Schmiere und stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie war nur durchschnittlich gross und versuchte, über die Köpfe hinweg nach dem Lehrer Ausschau zu halten. Ein paar Mädchen tuschelten über sie. Das taten sie schon seit Kilians Tod, und auch später, als sie sich überraschend mit Kerstin angefreundet hatte. An der Wand lehnte Gian und schob Rebekka seine Zunge in den Mund. Das ging jetzt schon drei Wochen so.

Thea blinzelte und versuchte sich über ihre Gefühle klar zu werden. Hätte sie eifersüchtig sein sollen? Gian war beliebt, sah gut aus und hatte Charme. Und trotzdem hatte sie ihm eine Abfuhr erteilt. Er passte einfach nicht zu ihr, zu egozentrisch, zu einfältig. Und Rebekka? Einst waren sie die besten Freundinnen. Sie schliefen an den Wochenenden bei der jeweils anderen, reisten per Zug in andere Städte und machten endlose Shoppingtouren. Unfassbar! Das wenige Geld, das sie besassen, ging doch schon beim Kauf der Fahrkarten drauf.

Rebekka hatte inzwischen bemerkt, dass Thea zu ihr rüber-sah. Ihre Augen wurden schmaler. Sie schlang die Arme noch enger um Gians Nacken. Das schien ihm zu gefallen. Er beugte sich tiefer, und Thea hätte nicht mehr abschätzen können, wer letztlich wen verschlingen wollte.

«Bist du behämmert?», brüllte Kerstin plötzlich. «Runter von meinem Blatt!»

Thea wurde aus den Gedanken gerissen und benötigte ein paar Sekunden, bis sie die Situation begriffen hatte, die neben ihr entstanden war:

Die Klassenproleten Rolo Vischer und Reto Ranzoni hatten Kerstin umstellt und grunzten hämisch auf sie herab. Kerstin verharrte in ihrer Kauerposition. Doch warum richtete sie sich nicht auf? Bei ihrer Grösse hätte das gewiss mehr Eindruck gemacht.

«Was für ein geiles Plätzchen», meinte Rolo feixend. «Ich glaub, hier bleiben wir noch ein bisschen.» Ranzoni nickte mit seinem schweren Kopf.

Kerstin schlug heftig auf Rolos Turnschuh. «Nimm den Fuss weg, du Arsch!»

«Ey, hat da jemand gesprochen?», fragte Rolo mit geheuchelter Unschuldsmiene.

Kerstin versuchte nun das Blatt, das sich genau unter seinem Schuh befand, freizubekommen. Rolo hatte sich einfach draufgestellt.

«Hey, das ist mein Blatt!», platzte Thea dazwischen, als ob das etwas an der Situation verändert hätte.

Ranzoni fuhr langsam herum und versperrte ihr die Sicht auf alles, was sich hinter seinem bulligen Rücken abspielte.

«Lasst sie bloss zufrieden!», schwellte Theas Stimme an. Da aber einige Schüler schmunzeln mussten, fühlten sich die beiden Widerlinge in ihrem Tun bestätigt.

Kerstin riss zornig an Rolos weiten Hosenbeinen, und Thea hatte irgendwie eine Lücke gefunden, um an Ranzoni vorbeizuschielen. Was für eine demütigende Situation. Kerstin kniete am Boden, und Rolo stand wie ein Gebieter über ihr. Er hatte die Arme verschränkt und zwinkerte listig zu Gian. Thea folgte hoffnungsvoll seinem Blick. Gian war der Leader des Trios, das sich grossartig als «Dreamteam» bezeichnete. Vielleicht würde ja Gian ein Machtwort sprechen? Er hatte schliesslich mehr Niveau als seine beiden Wasserträger zusammen. Tatsächlich unterbrach er sein Geschmuse, wollte sich aber offenbar nicht aus Rebekkas Ganzkörperumklammerung lösen. Er stand nur da, amüsiert wie alle anderen, und wartete gespannt, was sich als Nächstes ereignen würde.

Kerstin probierte es mit einem weiteren Faustschlag, der wirkungslos an Rolos Turnschuh verpuffte.

Wo bleibt denn nur Steger?, dachte Thea. Sie boxte Ranzoni auf die Brust. Einen zweiten Schlag konnte er abwehren und er begann, sie mit einem grobschlächtigen Blick einzuschüchtern.

Jetzt veränderte sich auch Kerstins Ausdruck. Ihre Brauen zogen sich zusammen und auf ihren Lippen zeichnete sich ein Anflug von Wahnsinn ab. Thea kannte ihre Freundin. Das war nicht gut. Das würde unkontrollierbar enden. Und schon blinkte etwas Silbernes in ihrer Faust. Thea riss die Augen auf. Ranzoni drehte knirschend den Kopf nach hinten. Kerstins Arm schnellte hervor, und Rolos selbstgefälliges Gesicht verzerrte sich innerhalb von einem Sekundenbruchteil zu einer überraschten Fratze. Während Kerstin blitzschnell hochsprang, ging Rolo in die Hocke. Er schrie und hielt sich die rechte Wade. Der Stoff zwischen seinen Fingern verfärbte sich dunkel. Ein hörbares Entsetzen ging durch die Klasse. Gian liess von Rebekka ab.

«Die Sau hat mich gestochen», brüllte Rolo und starrte fassungslos auf seine nassroten Fingerspitzen.

Kerstin hielt ihm einen silbernen Kugelschreiber vor die Nase. «Ich hab dich gewarnt, du Pfeife.»

«Ich blute», rief er. «Ich blute. Die Hexe hat mich gestochen. Ich schwörs. Holt Hilfe, schnell!»

Gian packte Kerstin und wirbelte sie herum. «Bist du übergeschnappt? Was hast du getan?»

«Rühr mich nicht an!»

«Du gehörst nicht in diese Schule», zischte Gian. «Du bist ein Freak, ein verdammter Freak.»

Kerstin fauchte wie ein in die Enge getriebenes Tier, von Wut und Verzweiflung gezeichnet. Gian hob den Zeigefinger vor sein Gesicht, jeden Muskel zum Frontalangriff gespannt. Noch ein Luftzug und die Bombe wäre explodiert.

«Hört auf», schrie Thea. «Schluss damit. Das muss nicht sein.»

Gian beachtete sie nicht. Sein Finger stand noch immer wenige Zentimeter von Kerstins bebenden Lippen entfernt.

«Schluss jetzt, bitte!» Thea drängte sich zwischen die beiden Körper. «Bitte, Gian, mach es nicht schlimmer. Lass es gut sein.»

Seine Nasenflügel blähten sich noch einmal auf. Dann begann seine Haltung zu bröckeln. Thea wusste nicht, ob es an ihrem bestimmten Auftreten lag oder an Rebekkas neuerlichen Streicheleinheiten. Gian schüttelte Rebekka ab und beugte sich zu seinem Freund. «Zeig mal her.»

«Die hat mich voll erwischt», winselte Rolo weinerlich. «Diese verdammte Schlampe. Sieh nur!» Ein kleiner Hautfetzen hing lose neben einem nadelkopfgrossen Einstich.

Die Klasse rückte näher auf, weil die Verletzung von Weitem kaum zu sehen war.

«Hast Glück gehabt», meinte Gian. «Ist nur halb so schlimm.»

«Glück gehabt?», zeterte Rolo. «Die Hose war schweineteuer!»

Er zeigte wutentbrannt auf Kerstin. «Die wirst du mir bezahlen, du Schlampe. Und obendrein noch Schmerzensgeld. Das schwör ich dir.»

Eine Schülerin reichte ihm eine Binde, die er sich nach anfänglichem Widerstand auf die Wunde legte.

«Durchlassen!», forderte eine Männerstimme. Sie gehörte Konstantin Steger und für Thea kam sie um Sekunden zu spät. Sein mageres Gesicht erschien zwischen den Köpfen der Jugendlichen. Obwohl er noch ein junger Lehrer war, hatte er bereits mit kräftigem Haarausfall zu kämpfen. Nur ein letzter, gestutzter Haarbüschel hatte sich wie eine Insel im weiten, glatten Ozean halten können. Als er seine Stirn runzelte, war es, als ob ein schwerer Wellengang die Insel wegzustossen versuchte. Er sah die Blutstropfen auf dem Papier, roch das ausgeschüttete Adrenalin in der Luft und suchte nach den Ursachen. «Kann mir jemand erklären, was hier los ist?»

«Sie ist los», schrie Rolo und zeigte auf Kerstin. «Die Missgeburt hat mir einen Kugelschreiber ins Bein gerammt.»

«Diesen Ausdruck will ich hier nicht hören», ermahnte Steger und prüfte flüchtig das Ausmass der Verletzung.

Rolo zog mit zusammengebissenen Zähnen die Binde weg. Die Haut um den Einstich war unnatürlich weiss. Kerstin sammelte ihre Siebensachen ein.

«Du warst das also?», hörte sie Steger hinter sich fragen. Sie schulterte sich die Tasche um und wollte an ihm vorbeimarschieren. Er hielt sie zurück. «Moment mal. So nicht!»

«Lassen Sie mich los!»

«Rolo hat sie zuerst provoziert», mischte sich Thea ein.

«Ich kann das allein regeln», knurrte Kerstin.

«Ich bin gespannt, was du mir zu sagen hast», sprach der Lehrer.

Kerstin, die mit ihm auf gleicher Augenhöhe war, funkelte ihn trotzig an. Sie schnappte nach Luft, als müsste sie die nächsten Sekunden unter Wasser verbringen. «Ich war gerade dabei, die Hausaufgaben zu vergleichen. Da ist dieser Idiot gekommen und hat sich mitten auf mein Blatt gestellt.»

«Nicht dein Blatt», kläffte Rolo. «Thea hat es dir gegeben – wie immer.»

«Und weiter?», bohrte Steger nach.

Kerstin seufzte. «Ich hab ihn mehrmals aufgefordert …»

«Sie hat mich verletzt», polterte Rolo erneut dazwischen und hob zum Beweis das eingerissene Hautstück an. «Hier! Alles blutig und da noch ein Loch in meiner Jeans!»

Steger beäugte die ausgebeulte Hose und bemerkte, dass da noch ganz andere Löcher drin waren. Natürlich war das nicht dasselbe. Die anderen Löcher sollten cool und modisch sein und wurden speziell für den Streetlook eingearbeitet. «Ich schlage vor, du gehst jetzt auf das Sekretariat. Dort hat es eine Hausapotheke mit Desinfektionsmittel und Verbandsmaterial. Lass dich kurz verarzten und komm wieder zum Unterricht zurück.»

«Aber was ist mir ihr?» Rolos Stimme überschlug sich schier.

«Das klären wir später», antwortete Steger.