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LETZTE
WORTE

ROLF VON SIEBENTHAL

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Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom
Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag
für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Für Julia

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Anmerkungen

1

Auch wenn es schwer ist, geh einen Schritt nach dem anderen. Der Erfolg wartet am Ende des Weges.

Mit geschlossenen Augen lauschte Bernhard Kohler der Stimme aus dem CD-Player in seinem Opel Astra.

Nur wer entschlossen ist und einen starken Willen hat, lässt sich von Problemen nicht vom Weg abbringen.

Exakt so war es. Er musste immer nur einen Fuss vor den anderen setzen und das Ziel vor Augen haben. Er durfte einfach nicht so viel nachdenken. Schliesslich machte er so etwas nicht zum ersten Mal.

Kohler öffnete die Augen und drückte auf den Knopf am Armaturenbrett. Mit einem Surren glitt die CD heraus. Er kontrollierte den Sitz seiner Krawatte im Rückspiegel und drückte mit der flachen Hand ein paar widerborstige weisse Haare platt. Korrektes Aussehen und freundliches Auftreten waren die Basis für sein Geschäft als Sicherheitsberater. Sorgfältig legte Kohler die CD in die Hülle, schloss sie und betrachtete den Titel. Mach endlich dein Ding! 60 x Motivation kompakt in 30 Minuten. Das Hörbuch hatte Ines ihm geschenkt. Aufmuntern sollte ihn die CD, ihn aus seinen Grübeleien reissen. Seit Monaten lag sie ihm in den Ohren, dass er es doch endlich gut sein lassen könne mit dem Job. Mit 68 Jahren könne er doch mehr Zeit zu Hause verbringen, einen Gemüsegarten anlegen oder all die Bücher lesen, die er immer hatte lesen wollen.

Schön wärs. Die Hypothek drückte, und als Freiberufler hatte er sich noch nie gross um eine Altersvorsorge gekümmert. Solange zwei seiner drei Kinder in der Ausbildung waren, würde er wohl oder übel weitermachen müssen.

Kohler studierte die Eggasse in der Berner Vorortsgemeinde Worb, leichter Regen tröpfelte auf die Frontscheibe. Hohe Thujahecken reihten sich aneinander, dahinter versteckten sich schmucke Einfamilienhäuser.

An diesem nasskalten Donnerstagnachmittag spazierte niemand durch die Strasse. Auch vor dem Zielobjekt, dem Haus von Eva Bärtschi 50 Meter von seiner Parkposition entfernt, regte sich nichts. Hinter der Hecke konnte Kohler gerade noch das obere Stockwerk ausmachen. An der Fassade blätterte hellblaue Farbe ab, auf dem Dach fehlten einige Ziegel. Kohler hätte etwas Exklusiveres erwartet von einer vermögenden Politikerin, etwas Protzigeres. Dort drüben könnte auch ein Handwerker mit zwei Kindern wohnen. Aber diskret war die Wohnlage, genau richtig für seine Zwecke.

Kohler nahm den Heftordner vom Beifahrersitz. Für Politik interessierte er sich nicht. Doch es gehörte zum Geschäft, dass er sich gut ins Bild setzte über seine Zielobjekte. Was war nochmal Bärtschis Spezialgebiet im Ständerat? Der Ordner enthielt Artikel, eine Biografie und diverse Fotos. Kohler griff nach einem Zeitungsausschnitt vom vergangenen Oktober. «Eva Bärtschi schafft die Wiederwahl.» Er überflog den Text, die 76-Jährige war also anerkannte Expertin für das Gesundheitswesen, seit zwölf Jahren sass sie im Ständerat. Er klappte den Ordner zu und legte ihn auf den Nebensitz.

Kohler wollte nach der Aktenmappe auf dem Rücksitz greifen. Wie ein Messer fuhr ihm der Schmerz ins Kreuz. Dummkopf! Drehbewegungen waren doch Gift für seine Bandscheiben. Kohler atmete durch, bis die Qualen nachliessen.

Dann stieg er vorsichtig aus dem Astra, öffnete die Fondstür und zog die Aktenmappe zu sich heran. Ein kurzes Klingeln signalisierte eine SMS. Kohler fischte das Handy aus seinem Sakko.

Denk an die Aufführung!

Kohler seufzte. Natürlich würde er an das Schultheater denken, in dem seine Enkelin Lara den Petit Prince spielte. Zumal Ines ihn seit Tagen damit nervte. Die Uhr auf dem Display zeigte 14.48, das würde locker reichen. Mehr als 30 Minuten würde er sowieso nicht brauchen für diesen Auftrag.

Er steckte das Handy in die Jackentasche, griff nach der Aktenmappe, liess mit dem Schlüssel das Autoschloss zuklicken und ging die ansteigende Strasse hoch.

Bestimmt nicht mal 15 Grad. Und das im Juni. Der Klimawandel liess in ganz Westeuropa Flüsse über die Ufer treten, das Wetter spielte verrückt. Vielleicht sollte er sich nach diesem Job ein Hybridauto zulegen. So vollbrächte er praktisch eine gute Tat.

Bei dem Gedanken musste Kohler schmunzeln.

«Warnung vor dem Hunde», stand auf einer Tafel am Gartentor, obwohl die Politikerin keinen Hund besass. Kohler öffnete das Metalltor, das die Hecke vor dem hellblauen Haus unterbrach.

Über Granitplatten an Rosenbüschen und Blumenbeeten vorbei schritt Kohler zur dunkelblau gestrichenen Haustür. Er drückte die Klingel, ein melodisches Ding-Dong erklang im Innern. Ein letztes Mal richtete er seinen Krawattenknoten, der erste Eindruck zählte, ein guter machte solche Jobs einfacher.

Kohler warf einen Kontrollblick in die Runde. Das einzige Haus, das in Sichtweite hätte liegen können, verbarg sich hinter einem hohen Gebüsch. Auf der Strasse vor dem Gartentor regte sich nichts. Alles klar.

Ein Schatten glitt hinter dem Türspion vorbei, Kohler lächelte breit.

Der Schlüssel klickte im Schloss. «Guten Tag. Sie wünschen?» Eva Bärtschi trug eine rote Küchenschürze über einer schlichten Jeans und einer weissen Bluse. Sie war gross und schlank, ihre Frisur hatte sie zu einem kurzen, braun gefärbten Bob geschnitten. Er stand in starkem Kontrast zu ihrem blassen Teint.

«Frau Bärtschi, guten Tag, Kohler mein Name.»

Missmutig verzog die Ständerätin ihren Mund. «Ich kaufe nichts. Und den Weg zu Gott finde ich auch ohne fremde Hilfe.»

Kohler schüttelte den Kopf. «Keine Sorge, ich bin kein Vertreter. Ein Auftrag führt mich hierher.»

«Ein Auftrag?»

«Genau. Wir hatten schon früher einmal miteinander zu tun.»

Sie runzelte die Stirn. «Tut mir leid, aber …»

«Kein Problem, es ist ein paar Jährchen her.» Kohler stellte die Aktentasche auf den Boden und klappte das Schloss auf. Er griff schnell hinein, legte die Hand um den Griff seiner Glock und zog die Pistole mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer heraus.

Ihre Augen weiteten sich, ein stummes O zeichnete sich auf ihren Lippen ab.

Respekt, sie wich keinen Schritt zurück. Kohler lächelte breit. «Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel. Das ist nichts Persönliches.»

Routiniert hob er die Pistole, zielte und schoss Bärtschi eine Kugel mitten in die Stirn.

2

Alex Vanzetti, Ermittler der Bundeskriminalpolizei, stand auf dem Rasen vor dem Haus von Ständerätin Eva Bärtschi und bewunderte die akkurat geschnittenen Büsche und gepflegten Blumenbeete. Da hatte jemand viel Zeit und Mühe in den Garten gesteckt. Im Vergleich dazu sah das zweistöckige Haus mit den dunkelblauen Fensterläden etwas vernachlässigt aus: Die Fassade könnte einen Anstrich vertragen, Spinnen hatten einige der vergitterten Fenster in Beschlag genommen. So ähnlich wie bei ihm zu Hause.

Mit raumgreifenden Schritten kam sein Kollege Reto Saxer über das nasse Gras auf ihn zu, wie immer elegant gekleidet im grauen Anzug und weissen Hemd. Saxer, der sich bereits am Tatort umgesehen hatte, schüttelte den Kopf mit ernster Miene. «Kein schöner Anblick.»

«Ist es wirklich Bärtschi?», fragte Vanzetti.

«Kein Zweifel.»

«Sobald die Medien Wind davon kriegen, ist der Teufel los.»

Saxer war mit 47 elf Jahre älter als Vanzetti. In den sechs Jahren, die sie zusammen bei der BKP arbeiteten, war er zu einem guten Freund geworden. «Das solltest du doch mittlerweile gewöhnt sein.»

Vanzetti schnaubte. Die Aufklärung einer Mordserie im vorigen Herbst hatte ihm zu 15 Minuten Ruhm verholfen. «Darauf kann ich gut verzichten.» Er klaubte eine Packung Nikotin-Kaugummis aus seinem Jackett und fummelte an der Plastikhülle herum, die sich nicht abstreifen liess. «Man sollte den Kerl einsperren, der diese Dinger erfunden hat.»

«Die Kaugummis oder die Verpackung?»

«Beide. Zuerst bringst du diese Dinger nicht auf. Und wenn du es schaffst, schmecken sie wie Dachpappe.»

«Ähnlich wie eine Zigarette also.» Saxer grinste von seinen 1,90 Metern herunter.

«Witzig», knurrte Vanzetti und steckte sich einen Kaugummi in den Mund. Seit zwei Wochen hatte er keine Zigarette angerührt, das zehrte an seinen Nerven. Und dann noch dieses Sauwetter. «Lass uns ins Haus gehen.»

«Im Flur vorn treten sich die Forensiker auf die Füsse. Am besten nehmen wir den Hintereingang.» Saxer führte ihn über Granitplatten um das Haus herum, an einem Unterstand mit einem Elektrovelo und Gemüsebeeten vorbei. Von der Rückseite her betraten sie die Küche.

Als Erstes fiel Vanzetti das Lämpchen an der Kaffeemaschine auf, es leuchtete grün. Unter dem Auslass stand eine volle Tasse, die niemand mehr trinken würde. Auf der Anrichte lagen eine Gurke, Mais und Zwiebeln ausgebreitet, auf einem Schneidbrett daneben ein Messer und in einer durchsichtigen Schüssel eine zerstückelte Tomate.

Durch die Türe zum Flur erspähte Vanzetti Techniker in weissen Schutzanzügen bei der Spurensicherung. Zwischen ihren Beinen konnte er den reglosen Körper von Eva Bärtschi auf dem Boden erkennen. «Was wissen wir bis jetzt?»

Saxer zog einen Notizblock aus seiner Gesässtasche. «Keine Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen ins Haus, keine Anzeichen eines Kampfes, nichts ist zu Bruch gegangen. Bärtschi scheint aus kurzer Distanz erschossen worden zu sein. Vermutlich hat der Täter einen Schalldämpfer verwendet. Zumindest hat keiner der Anwohner, die wir bis jetzt befragt haben, einen Schuss gehört. Eine Nachbarin wollte zu Besuch kommen und hat sie» – er schaute auf seine Uhr – «vor etwa 90 Minuten gefunden.»

«Lebte sie alleine hier?»

«Ja. Bärtschi hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn wohnt in Bern, von der Tochter besorge ich die Adresse noch.»

«Wir werden mit ihnen reden müssen.» Vanzetti holte Luft und wappnete sich für den Anblick der Leiche. «Schauen wir uns das mal aus der Nähe an.» Am Kühlschrank vorbei, an dessen Türe Postkarten aus aller Welt mit runden Magneten befestigt waren, betrat er den Flur. Vanzetti schlängelte sich zwischen Technikern hindurch, einige von ihnen nickten ihm zu und wichen zur Seite.

Die weissen Wände und hellbraunen Fliesen im Flur wiesen Risse auf, ein IKEA-Regal diente als Schuhständer, an Haken darüber hingen Jacken, Mützen und ein Velohelm. Zwei Meter von der Leiche entfernt ging Vanzetti in die Hocke. Er fokussierte seinen Blick ganz auf den leblosen Körper und blendete alles andere aus. Die Haut sah kalt aus, doch der Verfärbungsprozess war nicht abgeschlossen. Vermutlich war die Politikerin zwei bis drei Stunden tot. Bärtschi trug eine Schürze, sie hatte in der Küche einen Salat zubereitet und einen Kaffee trinken wollen. Und dann war sie erschossen worden. Von jemandem, dem sie wohl selbst geöffnet hatte.

Ausser dem Loch auf der Stirn und der schmalen Blutspur schien ihr Gesicht ganz unversehrt. Doch der Hinterkopf fehlte. Partikel der Hirnmasse, zersplitterte Schädelknochen und Blut hatten sich über die Fliesen ausgebreitet.

Was sie wohl in ihrem letzten Moment gefühlt hatte? Das Gesicht sprach für Resignation. Aus den Medien kannte Vanzetti die Frau ganz anders. Sie galt als Kämpferin, die sich für die Schwachen einsetzte und nicht lockerliess. Die kräftigen Hände der Ständerätin waren ihm auf den Fotos nie aufgefallen. Hände, die nie mehr in der Gartenerde wühlen würden.

Schleifspuren führten von der Haustür zwei Meter in den Flur. Vanzetti erhob sich. «Der Mörder klingelt und Bärtschi macht auf. Man könnte erwarten, dass eine bekannte Politikerin etwas vorsichtiger ist. Vielleicht war es jemand, den sie erwartete oder dem sie vertraut hat.»

«Möglich. Oder es war jemand, der bloss vertrauenserweckend aussah», erwiderte Saxer. «Jemand in Uniform zum Beispiel, ein Briefträger oder ein Telefontechniker.»

Vanzetti nickte. Beim Anblick einer Uniform vergassen viele Menschen jede Vorsicht. «Der Täter erschiesst sie an der Tür, dann schleift er die Leiche ein Stück in den Flur. Wieso riskiert er, dass er Spuren an der Leiche hinterlässt?»

Mit dem Daumen wies Saxer über seine Schulter. «Weil er Zeit und Ruhe brauchte, um das Haus zu durchsuchen. In einigen Räumen stehen Schränke und Schubladen offen. Der Mörder hat die Leiche bewegt, damit er die Eingangstür schliessen konnte.»

«Verdammt kaltblütig.» Das gefiel Vanzetti nicht. Beziehungsdelikte liessen sich relativ rasch aufklären, oft handelte es sich beim Täter um einen eifersüchtigen Ehemann oder einen geldgierigen Enkel. Danach sah das hier nicht aus. «Fehlt etwas im Haus?»

«Schwer zu sagen.» Saxer fuhr sich mit der Hand durch die dichten grauen Haare. «Wir werden Bärtschis Kinder fragen müssen, welche Wertsachen ihre Mutter besass. Der Fernseher steht jedenfalls noch im Wohnzimmer. Doch in der Schlafzimmerkommode liegt eine leere Schatulle, und Bargeld oder ein Portemonnaie haben wir nirgends gefunden.»

Einer der Kriminaltechniker trat vor Vanzetti, er hielt eine Kamera hoch. «Darf ich?»

Vanzetti nickte ihm zu und warf einen letzten Blick auf Eva Bärtschis leblosen Körper. «Wir sind fertig hier.»

3

Der Schweiss tropfte Zoe Zwygart vom Gesicht, als sie in Worb von ihrem Rennvelo stieg. 12,2 Kilometer Wegstrecke registrierte der Tacho, von der Redaktion an der Berner Effingerstrasse über das Kirchenfeld und Muri war sie gefahren, eine halbe Stunde hatte sie dafür gebraucht. Normalerweise hätte sie das genossen, doch die Kälte und vor allem der Verkehr hatten ihr zugesetzt. Wann bekam Bern endlich ein paar Velobahnen?

Wenigstens machte der Regen mal eine kurze Pause. Sie hängte den Helm an den Lenker und schüttelte Tropfen von der Goretex-Jacke, bevor sie ihr Velo die Eggasse hochschob.

50 Meter weiter oben sah sie den Trubel. Die Strasse war mit Polizeiautos, einem weissen Kleinbus und einem Leichenwagen zugeparkt. Die Heckklappe des metallic-grauen Mercedes Kombi stand offen, ein gutes Dutzend Männer und Frauen in Zivil und Uniform wuselten herum.

«Hier können Sie nicht durch.» Ein junger Polizist mit rotem Dreitagebart und dunkelblauem Overall versperrte ihr den Weg.

Zoe zückte ihren Presseausweis. «Ich bin von den Berner Nachrichten.»

Das Bubi prüfte ihr Kärtchen eingehend und nickte schliesslich. «Okay, aber nur bis zur Absperrung.»

Zoe steckte den Ausweis zurück in ihr Portemonnaie. «Wer hat hier das Sagen?»

«Vanzetti von der Bundeskriminalpolizei.»

Vanzetti, das traf sich gut. Mit ihm hatte sie im vergangenen Oktober eine Mordserie aufgeklärt, das hatte ihr Exklusivgeschichten und einen Namen in der Medienszene eingetragen. Zoe schenkte dem Rotbart ein zuckersüsses Lächeln. «Darf ich mein Velo hier stehen lassen? Unter den strengen Augen des Gesetzes wird es bestimmt niemand klauen.»

Er sah sich um, als hielte er Ausschau nach jemandem, der etwas dagegen haben könnte. «Kein Problem.»

Zoe lehnte das Velo gegen eine Hecke, dann ging sie vor bis zum gelben Absperrband. Vanzetti konnte sie zwischen den Fahrzeugen nirgends entdecken. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft hätte sie den überkorrekten Polizisten auf den Mond schiessen können. Doch mit der Zeit war sie doch recht gut klargekommen mit ihm. Und sie hatte das Gefühl, dass auch er sie mochte. Okay, mochte war übertrieben. Aber er flippte zumindest nicht mehr aus, wenn sie an einem Tatort auftauchte.

Nur eine schmale Lücke in der hohen Thujahecke gab den Blick auf einen Streifen hellblaues Haus frei, es stand etwa zehn Meter entfernt in einem piekfeinen Garten. Viel zu sehen gab es hier nicht. Ein Stück die Strasse hoch entdeckte Zoe einen Kollegen von der Berner Zeitung, der eine Nachbarin in deren Garten befragte. Der Rest der Medienmeute schien es noch nicht hierher geschafft zu haben. Doch das würde sich bald ändern, falls es sich bei der Toten – wie ein Tippgeber am Telefon berichtet hatte – wirklich um Eva Bärtschi handelte.

Okay, Zoe, an die Arbeit. Wenn es hier eine Story gibt, wirst du sie kriegen.

Zoe tigerte um das Grundstück herum, suchte ein Guckloch in der Hecke und belauschte Kriminaltechniker. Sie sprach Nachbarn auf beiden Seiten der Strasse an und fing Polizisten ab – alles ohne grossen Erfolg. Mehr als die Bestätigung, dass die Ständerätin tatsächlich seit 18 Jahren in dem Haus wohnte, bekam sie nicht heraus.

Nach und nach trafen weitere Journalisten ein, dazu kamen Fotografen und Kameraleute. Zoe hielt sich von ihnen fern und spürte den Druck steigen. Sie wollte keine 08/15-Geschichte, sie suchte eine Exklusivstory.

Ein pausbäckiger Typ in Zivilkleidung und mit einem Bauch, der sich über den zu engen Gürtel wölbte, schritt durch die Gartenpforte und duckte sich unter dem Absperrband hindurch. Dann marschierte er die Reihen der parkierten Autos entlang.

Zoe guckte sich um und stellte sicher, dass keiner der Kollegen sie beobachtete. Dann folgte sie dem Schwergewicht in zehn Metern Abstand. Sie beobachtete, wie er mit einem Schlüssel einen schwarzen Skoda öffnete und sich in den Innenraum beugte. Sie stellte sich hinter ihn. «Entschuldigung.»

Er schnellte in die Höhe und stiess mit dem Kopf gegen den Dachhimmel. «Gopferdelli.»

Am Armaturenbrett konnte Zoe ein Funkgerät ausmachen. Es musste sich um einen Zivilfahnder von Bund oder Kanton handeln. «Zwygart von den Berner Nachrichten. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?»

Der Mann drehte sich halb um. «Ach Sie! Für Fragen müssen Sie sich an den Chef wenden. Die Zentrale wird später eine Presseerklärung herausgeben.» Der Mann nahm ein Klemmbrett vom Beifahrersitz, ächzte und stemmte sich aus dem Auto hoch.

«Sie könnten mir doch einen klitzekleinen Vorsprung geben. Sonst flippt mein Chef noch aus.» Zoe warf einen verstohlenen Blick auf das Klemmbrett. Es schien eine Namensliste zu sein.

«Es ist noch zu früh, viel wissen wir nicht.» Der Mann war 30 oder 50, einen halben Kopf kleiner als Zoe und hatte einen Schädel wie eine Bowlingkugel.

«Ich bin für alles dankbar.»

Er schloss das Auto ab und sah sich kurz um. «Ihre Artikel letztes Jahr über den Serienmörder haben mir gefallen. Sachlich, objektiv. Das war gute Arbeit.»

«Danke.»

Wie ein Verschwörer trat er dicht an Zoe heran. «Im Haus liegt die Leiche einer Frau», sagte er mit gesenkter Stimme.

«Ist es Eva Bärtschi?»

«Ja.»

«Wurde sie ermordet?»

Der Mann reckte den Kopf und sah einen Kriminaltechniker im weissen Schutzanzug die Strasse hochkommen. Augenblicklich rückte er von Zoe ab. «Dazu kann ich Ihnen nichts sagen.»

Shit, hätte sie nur eine Minute länger gehabt. «Darf ich Ihren Namen haben?»

«Nein, ich möchte nicht in der Zeitung zitiert werden. Einen schönen Tag noch.» Der Mann drehte ihr den Rücken zu und studierte das Klemmbrett. Dann ging er auf den weissen Kleinbus zu, in dem der Techniker verschwunden war.

Aus zehn Metern Entfernung sah Zoe den Glatzkopf durch die offene Schiebetür sprechen. Sie spitzte die Ohren, konnte jedoch nichts verstehen. Das Klemmbrett hielt der Mann lose an seiner Seite. Wenn sie das in die Finger bekäme … Moment, vielleicht war das gar nicht nötig.

Sie eilte zurück zum Absperrband vor dem Haus, wo die Kollegenschar noch grösser geworden war. Nach kurzer Suche entdeckte sie ihren Hausfotografen Paul Aebi. Er schoss Bilder über die Gartenpforte hinweg. «Paul, hast du einen Moment?»

Aebi war Anfang sechzig, klein und von schmaler Statur. «Kompletter Schrott hier, mehr als Polizeiautos und den Rasen kriege ich nicht drauf.» Der mürrische Alte wartete sehnlichst darauf, in Pension zu gehen und an einem Strand in Mallorca nur noch Oben-ohne-Girls zu knipsen – das erzählte er zumindest jedem.

«Komm bitte kurz mit.» Am Arm führte ihn Zoe ein Stück die Strasse hoch und stoppte in gebührendem Abstand vom weissen Kleinbus. «Siehst du diesen Glatzkopf dort?»

«Bin ja nicht blind.»

«Das Klemmbrett, das er in der Hand hält – kannst du ein Foto davon machen? Mit grossem Zoom?»

«Ist der Papst katholisch?» Aebi nahm die Kamera hoch, liess das Objektiv ausfahren und drückte den Auslöser. Es klickte drei Mal in rascher Folge. «War es das?»

Gerne hätte sie ihm einen Tritt in den Hintern gegeben, doch Zoe riss sich zusammen. «Zeig mir bitte die Fotos gleich jetzt.»

«Verdammt, Zoe, ich muss noch an ein Schultheater und eine Parteiversammlung.»

«Es ist wichtig.»

Er knurrte, tippte ein paar Mal auf die Kamera und hielt ihr das Display hin. «Zufrieden?»

Zoe beugte sich darüber, die Namen auf der Liste waren gut lesbar.

Gabriela Kupferschmid, Eichenweg, Worb, als Erste am Tatort.

«Gute Arbeit.» Sie boxte Aebi freundschaftlich auf den Oberarm, zückte ihr Handy und gab die Adresse bei Google Maps ein. Der Eichenweg kreuzte die Eggasse bloss ein Stück weiter oben.

Zoe ging die Strasse hoch, wobei sie Rinnsalen auf dem Asphalt auswich. Sie bog in die dritte Querstrasse ein und stoppte vor einem Doppelhaus mit hellgelber Fassade und grünen Fensterläden. Im Garten stand eine Satellitenschüssel. Die Haustür wurde in dem Moment geöffnet, als Zoe über den Parkplatz vor der Garage schritt.

Eine ältere Dame trat heraus und hob einen Deckel über einem Glas in ihrer Hand. Ein Insekt flog ins Freie.

«Entschuldigung, sind Sie Frau Kupferschmid? Ich heisse Zwygart und arbeite für die Berner Nachrichten.»

«Von der Zeitung sind Sie?» Die Frau hatte ein herzförmiges Gesicht und ein spitzes Kinn. Ihre Augen waren gerötet und sie blickte unbehaglich drein.

«Darf ich Ihnen kurz ein paar Fragen stellen? Über Frau Bärtschi?»

«Woher haben Sie meine Adresse?»

«Ich habe mit Polizisten gesprochen.» Das war nicht ganz gelogen. «Wie kam es, dass Sie Frau Bärtschi gefunden haben?»

Kupferschmid schwieg und sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

«Das muss schrecklich gewesen sein für Sie.»

«Oh, ja», bestätigte Kupferschmid. «Nie im Leben werde ich das vergessen.»

«Besuchten Sie Ihre Nachbarin oft?»

Sie zögerte, schüttelte den Kopf. «Ich wollte Eva bloss von meiner Konfitüre bringen.» Mit der Hand deutete sie auf eine Reihe von Himbeersträuchern. «Sie schien nicht zu Hause zu sein, also wollte ich das Glas in der Küche deponieren. Eva lässt die Hintertüre meistens offen.»

Ob der Täter so reingekommen war? «Hat Frau Bärtschi da noch gelebt?»

«Ja … also nein. Ich sah sie im Flur liegen und habe zuerst gedacht, sie sei vielleicht ohnmächtig geworden. Doch dann habe ich all das Blut gesehen. Und einen Teil ihres Kopfes … Es war grauenhaft.»

«Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen an der Leiche? Oder im Haus?»

«Nein, nichts. Na ja, ausser dem Radio vielleicht.»

«Ja?»

«Eva hörte gerne Musik. Es war also nichts Besonderes, dass in der Küche das Radio lief. Doch sie liebte Verdi und Puccini. Ich habe diese schreckliche Musik dann abgestellt.»

«Was lief denn im Radio?»

«Die Tochter meiner Nachbarin spielt das immer so laut ab, dass ich es bis in mein Schlafzimmer hören kann. Ich glaube, sie nennen es Techno.»

Hatte sich Bärtschi in ihren letzten Minuten Techno anhören müssen? Es wäre ein schrecklicher Tod gewesen.

4

Flickenteppiche bedeckten den Flur im ersten Stock von Bärtschis Haus. Eine abgelaugte Kiefernkommode stand auf dem abgeschliffenen Holzparkett, auf der Oberfläche hatte sich Staub angesammelt. An den Wänden hingen Spanplatten, auf die verblichene Fotodrucke aufgezogen waren. Sie zeigten Wälder und Berge.

Im Schlafzimmer waren die Wände hellblau gestrichen. Schwaches Licht drang durch ein verschmutztes, bogenförmiges Fenster herein und erhellte einen weissen Schreibtisch mit einem modernen PC. Daneben lag ein Buch: «Bildatlas der Galaxien». Das schmale Bett aus massivem Holz stand an der Wand unter gerahmten Fotos von Kindern. Vanzetti trat einen Schritt näher, sie dokumentierten das Erwachsenwerden eines Mädchens und eines Jungen – vermutlich Bärtschis Kinder. Das Bett mit dem dunkelblauen Bezug war ordentlich gemacht.

Er stellte sich in die Mitte des Raumes und wollte ein Gefühl für dieses Haus bekommen und für die Frau, die darin gewohnt hatte. Doch es gelang ihm nicht so recht. Alles wirkte auf den ersten Blick ordentlich und sauber. Bei genauerer Betrachtung zeigten sich jedoch überall Abnutzung und Nachlässigkeiten. Zudem gab es im ganzen Haus nur wissenschaftliche Bücher, keine Belletristik. Wie hatte schon Cicero geschrieben? Ein Raum ohne Bücher ist wie ein Körper ohne Seele.

Die Treppe knarrte, kurz darauf betrat Saxer das Schlafzimmer. «Ich hatte gerade Verena Christen am Telefon, die persönliche Assistentin von Eva Bärtschi.»

«So etwas hatte sie? Nicht schlecht.»

«Das ist nichts Besonderes. Viele Parlamentarier beschäftigen so jemanden für ihren Bürokram.»

Das hätte Vanzetti auch gerne. «Wie hat Frau Christen die Nachricht aufgenommen?»

«Sie hatte schon am Radio davon gehört und schien ziemlich durch den Wind. Und sie hat gefragt, ob Bärtschis PC oder Laptop gestohlen wurde. Darauf sollen sich wichtige Dokumente befinden.»

«Hier steht ein PC.» Mit dem Kinn deutete Vanzetti auf den Schreibtisch. «Hast du irgendwo einen Laptop entdeckt?»

«Bis jetzt nicht.»

«Lass die Kollegen danach suchen. Und sobald die Forensiker hier fertig sind, sollen sie den PC in die Zentrale bringen. Jemand muss ihn unter die Lupe nehmen.»

«Habe ich schon veranlasst.»

Auf Saxer war Verlass. «Gut. Wann können wir mit Frau Christen reden?»

«Jetzt gleich, wenn du willst. Sie wohnt im Breitenrainquartier und ist zu Hause.»

«Okay, fahren wir hin.» Vanzetti ging voran die Treppe hinunter. «Was weisst du eigentlich über Bärtschi?», fragte er über die Schulter. Saxer interessierte sich für Politik.

«Sie soll aus einem vermögenden Haus stammen und war ein animal politique. Sass bereits in den 1970er-Jahren im Berner Grossen Rat und im Nationalrat, damals noch für die Partei der Arbeit. Später ist sie zur SP übergetreten. Zwischendurch verschwand sie für eine Weile von der Bildfläche. Doch nach der Jahrtausendwende tauchte sie wieder auf und trat erneut zu den Wahlen an, diesmal für den Ständerat. Sie hat sich einen Ruf als kompetente Sozialpolitikerin erarbeitet. Allerdings galt sie auch als knallhart und berechnend.»

Draussen in der Eggasse entdeckte Vanzetti eine ganze Horde von Medienleuten. Bestimmt hofften die Hyänen auf grässliche Bilder zur spektakulären Tat, nur damit sie mehr Zeitungen verkaufen und bessere Einschaltquoten erzielen konnten. Er verabscheute diese Typen.

Vanzetti holte Luft, steckte den Kopf zwischen die Schultern und öffnete das Gartentor. Augenblicklich prasselte ein Gewitter aus Fragen auf ihn herab. Alle redeten gleichzeitig, als hätte jemand den Schalter umgelegt. Das Geschrei vermischte sich zu einem Kauderwelsch.

«… Ständerätin tot?» – «Wie wurde …?» – «Wer …?» – «… Raubmord?»

Mit seinen Ellenbogen bahnte sich Vanzetti eine Gasse, quetschte sich zwischen den Journalisten durch, befreite seine Arme und Schultern von grapschenden Händen. Zwei Polizisten in Uniform eilten ihm zu Hilfe und hielten die Meute zurück.

Kaum hatte sich Vanzetti etwas Luft verschafft, beschleunigte er seinen Schritt und eilte die Eggasse hinab. Wohlweislich hatte er sein Dienstauto ganz unten bei der Pizzeria parkiert. Er stopfte einen Nikotin-Kaugummi in den Mund. «Die Kerle gehen mir echt auf den Geist.»

Saxer hielt mit ihm Schritt. «Noch sind wir nicht alle los.»

Vanzetti blickte zurück, ein Fotograf verfolgte sie. «Aasgeier …»

«Na, auf der Flucht?», fragte eine nur zu bekannte weibliche Stimme. Zoe Zwygart rollte mit ihrem Velo neben ihn.

Vanzetti blieb stehen. «Was tun Sie denn hier?»

Sie bremste ab und stieg vom Sattel. «Arbeiten.»

«Ich meinte eher, wieso Sie nicht dort oben um den Kadaver herumlungern wie Ihre Kollegen.» Er deutete die Eggasse hoch.

Zwygart lächelte. Sie trug einen roten Helm, das schwarze Haar lugte in einem Zopf darunter hervor. Ihre Augen verbarg sie hinter einer Sonnenbrille. «Ich habe meine Story beisammen und bin auf dem Weg in die Redaktion. Aber ich füge gerne noch ein Exklusivinterview mit Ihnen hinzu. Wie wärs?»

Vanzetti schnaubte. «Sie wissen doch, wie das läuft. Sie werden eine Pressemitteilung von uns bekommen.»

«In der nur belangloses Zeug drinsteht.»

Der Fotograf, ein hagerer Kerl mit stoppeligen weissen Haaren, schloss zu ihnen auf und begann zu knipsen. «Fotos von den Superbullen passen bestimmt zu deinem Artikel, Zoe», sagte er.

«Nicht wirklich», antwortete Zwygart.

Vanzetti drehte sein Gesicht von der Linse weg. «Sie kennen den Kerl?»

«Paul Aebi arbeitet für die Berner Nachrichten.»

Vanzetti schaute sie an und richtete einen Zeigfinger auf Aebi. «Dann sagen Sie ihm mal ganz kollegial, dass er uns in Ruhe lassen soll.»

Aebi grinste hinter dem Sucher und richtete seine Kamera mal auf Vanzetti, mal auf Saxer. «Seit dem vergangenen Jahr sind Sie eine bekannte Persönlichkeit. Unsere Leser interessiert, was Sie so treiben.» Er kam noch näher und hielt Vanzetti die Kamera dicht vors Gesicht.

«Lassen Sie das.» Saxer stellte sich zwischen Vanzetti und den Fotografen.

«Wie ist das jetzt mit dem Exklusivinterview?», fragte Zwygart.

Zoe Zwygart war Ende zwanzig, sie trug eine eng anliegende rote Jacke, ihre schmalen Hüften steckten in schwarzen Jeans. Sie hatte sich Vanzettis Respekt erarbeitet, im Prinzip mochte er sie gern. Doch jetzt nervte sie ihn mal wieder. «Warum suchen Sie sich keinen anständigen Job?»

Aebi drückte unablässig auf den Auslöser. «Wie ist die Luft dort oben auf Ihrem hohen Ross, Herr Kommissar?»

Vanzetti umkurvte Saxer und machte zwei Schritte auf den Fotografen zu. Er hätte ihm die Kamera in den Hals stopfen können. «Hauen Sie ab.»

Saxer legte seinen Arm um ihn. «Komm, Alex, lass uns gehen.»

Aebi grinste und zwinkerte Vanzetti zu. «Ach, so ist das. Sie beide geben ein hübsches Paar ab.»

«Paul», rief Zwygart. «Halt die Klappe.»

Saxer wollte Vanzetti fortziehen. «Hör nicht auf diesen dummen Schwätzer.»

«Waren Sie nicht mal verheiratet, Vanzetti? Ist Ihre Frau abgehauen, weil sie herausgefunden hat, dass Sie schwul sind?», sagte Aebi.

Niemand machte Witze über seine verstorbene Frau. Vanzetti riss sich los und packte Aebi an der Jacke, bis ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. «Arschloch.» Dann stiess er ihn grob weg.

Der Fotograf stolperte rückwärts, fiel über eine Trottoirkante und landete mit seinem Hintern auf dem nassen Asphalt. Die ganze Zeit drückte er den Auslöser seiner Kamera. Und nicht mal für eine Sekunde verschwand das dämliche Grinsen aus seinem Gesicht.

5

«Ich weiss gar nicht …» Verena Christen sah aus wie ein Mensch, neben dem kürzlich der Blitz eingeschlagen hatte. Ihre Hände zitterten, bis sie sie auf dem Esstisch faltete.

Vanzetti schätzte die Frau auf Ende sechzig. Sie hatte braune Augen, ein rundliches Gesicht und schmale Lippen. Die Farbe ihrer kurz geschnittenen Haare bewegte sich irgendwo zwischen Dunkel- und Hellbraun.

«Möchten Sie etwas trinken?» Sie trug einen altmodischen dunkelblauen Rock, eine weisse Bluse, beige Strumpfhosen und schwarze Pantoffeln.

«Nein, danke.» Vanzetti sass ihr gegenüber in der Wohnung am Pappelweg in Bern. Klammern auf allen vier Seiten hielten das weisse Tischtuch straff. An der Wand hing ein gerahmter Druck von Ankers Schulklasse, in der Ecke plätscherte Wasser aus einem Stein in einen kleinen Zierbrunnen. «Was genau war denn eigentlich Ihre Aufgabe als Assistentin von Frau Bärtschi?»

«Hauptsächlich habe ich Schreibarbeiten erledigt. Ihre Post gesichtet, Einladungen sortiert, Briefe und Mails beantwortet. Und ich habe alle Akten geordnet. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Papiere eine Ständerätin bekommt.»

«Kannten Sie Frau Bärtschi schon lange?»

Sie schlang die Arme um den Leib, als wäre es kalt in ihrem Wohnzimmer. «Wir sind zusammen ins Kirchenfeld-Schulhaus gegangen. Allerdings war sie ein paar Klassen über mir. Schon damals habe ich sie bewundert, jeder am Gymi kannte Eva. Einmal hat sie Plakate für das Frauenstimmrecht gemalt und in der Schule aufgehängt. Das gab eine Menge Ärger damals, in den 1960er-Jahren.»

«Und wie lange waren Sie ihre Assistentin?»

Frau Christen runzelte die Stirn. «Das ist schwer zu sagen. Ich habe ihr immer mal wieder geholfen bei der Buchhaltung oder solchen Sachen. Eva war etwas chaotisch in dieser Hinsicht. Offiziell ihre Assistentin wurde ich 2003 nach ihrer Wiederwahl.»

«Haben Sie ein Büro?», fragte Saxer. Er hatte auf dem braunen Sofa Platz genommen und machte sich Notizen. Auf dem niedrigen Couchtisch vor ihm lagen eine Fernbedienung und ein «Tele» mit irgendeiner Schauspielerin auf der Frontseite.

Sie machte einen Schlenker mit einer Hand durch den Raum. «Das hier ist mein Büro. Ich habe ein Telefon mit zwei Rufnummern, eine davon ist für Evas Arbeit reserviert.»

Von draussen drang Gejohle in den 2. Stock des renovierten Altbaus. Vanzetti drehte den Kopf. Durch das Fenster in seinem Rücken schaute er hinunter auf den kleinen Park, wo eine Horde Kinder zwischen Pfützen einem Fussball nachjagte. Er wandte sich wieder Christen zu. «War Frau Bärtschi eigentlich verheiratet?»

«Geschieden, seit vielen Jahren schon. Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihrem früheren Mann.»

«Hatte sie gegenwärtig einen Partner?»

Sie beäugte Vanzetti skeptisch. «Ich verstehe nicht … Ist das wichtig?»

Vanzetti lehnte sich vor. «Wir wollen Sie keinesfalls aushorchen, Frau Christen. Aber je mehr wir über das Leben von Frau Bärtschi wissen, desto schneller kommen unsere Ermittlungen voran.»

Sie zögerte, schien einer inneren Stimme zu lauschen. Schliesslich gab sie sich einen Ruck. «Über die Jahre hinweg gab es immer wieder Männer in ihrem Leben. Aber nicht in der letzten Zeit.»

«Wie sieht es mit engen Freunden oder Bekannten aus?»

Sie kratzte einen unsichtbaren Fleck vom Tischtuch. «Eva pflegte nicht viele private Kontakte, die meisten waren beruflich. Ihre engste Freundin … vielleicht war ich das.» Sie versuchte sich an einem Lächeln.

«Sie sind sich nicht ganz sicher?»

«Nun … Wir gingen nicht gemeinsam ins Restaurant oder auf Reisen. Ihre Ämter nahmen Eva sehr in Anspruch. Manchmal haben wir …» Christen schien kurz vor einem Tränenausbruch zu stehen. «… haben wir einfach zusammen einen Film im Fernsehen geschaut.» Sie wandte den Blick ab, ihr Unterkiefer zitterte.

Vanzetti bewegte sich auf dünnem Eis, er wollte die Frau nicht zusammenbrechen sehen. «Im Haus von Frau Bärtschi sind mir Bücher über Astronomie aufgefallen. War das ein Hobby von ihr?»

Ihre Miene hellte sich etwas auf. «Oh, ja. Eva liebte das. Sie hat ganze Nächte beim Beobachten der Sterne verbracht. Und sie ist auch ins Ausland gereist, wenn es irgendwo etwas Spezielles zu sehen gab, eine Sonnenfinsternis oder so etwas.»

«Ein schönes Hobby. Haben die Kinder von Frau Bärtschi auch Interesse daran?»

Christen senkte den Blick. «Nein, gar nicht.»

«Wie gut haben sie sich denn verstanden? Hatten sie oft Kontakt?»

«Mit Fabian schon, er wohnt in Bern. Mit Rahel …» Sie vollführte etwas, das zwischen Achselzucken und Kopfschütteln lag. «… nicht.»

Vanzetti horchte auf. «Gibt es einen bestimmten Grund dafür?»

Eingehend studierte sie das Tischtuch. «Ich bin mir nicht sicher. Rahel ist immer ein schwieriges Kind gewesen. Sehr eigenwillig. Mit 18 ist sie ausgezogen, wollte auf eigenen Füssen stehen. Doch sie ist an die falschen Leute geraten, hat Probleme mit Drogen bekommen. Eva hat immer wieder den Kontakt gesucht, hat Hilfe angeboten. Doch Rahel liess sie abblitzen.»

«Wissen Sie, wo wir die Tochter erreichen können?»

«Nein, ich habe keine Ahnung.»

Vanzetti schaute Saxer kurz an. Die Tochter würden sie irgendwie aufspüren müssen – und zwar bald. «Gut, kommen wir zu den vergangenen Tagen oder Wochen. Hat sich etwas verändert in der Zeit? Schien Frau Bärtschi nervös oder gereizt?»

Frau Christen schüttelte den Kopf. «Nein, gar nicht. Sie kam mir ganz normal vor und hat mir verschiedene Rechercheaufträge gegeben. Zum Beispiel wollte sie mit einem Vorstoss den Zugang von Lobbyisten zum Bundeshaus beschränken.»

«Wann haben Sie Frau Bärtschi das letzte Mal gesehen?»

«Am Montag im Parlamentsgebäude. Ich habe ihr Unterlagen gebracht, die sie für eine Sitzung der SGK benötigte.»

«SGK?»

«Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit.»

«Kennen Sie jemanden, der einen Grund gehabt hätte, Frau Bärtschi Schaden zuzufügen?»

«Eva war immer … nett. Zu allen. Sie machte keinen Unterschied zwischen einem Bundesrat und einer Verkäuferin im Coop. Natürlich, im politischen Tagesgeschäft konnte sie sich heftig zur Wehr setzen. Das gab schon mal böses Blut.»

«Auch in der letzten Zeit?»

«Ja, schon. Sie hat sich vehement für ein striktes Verbot der Tabakwerbung eingesetzt. Das hat ihr ein paar Hassmails eingebracht, vermutlich von Leuten aus der Tabak- oder der Werbebranche.»

In diesem Geschäft ging es um sehr viel Geld. «Konkrete Drohungen?»

«Nein, nicht wirklich. Eher Pöbeleien.»

Saxer räusperte sich. «Sie haben mich am Telefon nach Dokumenten auf ihrem PC und Laptop gefragt. Darf ich fragen, wieso die so wichtig sind?»

Plötzlich wirkte sie verzweifelt. «Sehen Sie … Eva hatte keine Geheimnisse vor mir. Aber an ihren Computer liess sie niemanden heran, nicht einmal mich. Deswegen bewahrte sie den auch im Schlafzimmer auf. Und Eva hat mir aufgetragen … ‹Vreni›, hat sie gesagt, ‹sollte mir jemals etwas zustossen, dann bring meinen PC und den Laptop in Sicherheit›.» Sie schluchzte.

«Hat sie denn damit gerechnet, dass ihr etwas zustossen könnte?», fragte Vanzetti.

Christen starrte länger auf die Tischplatte. «Politiker leben heutzutage wie in einem Schaufenster. Und es gibt genug Verrückte dort draussen, die keine Hemmungen haben auf Twitter oder Facebook. Aber ich glaube nicht, dass Eva sich wirklich Sorgen machte über die Hetzparolen.» Sie schaute Vanzetti fragend in die Augen. «Haben Sie ihre Computer gefunden?»

«Den PC, aber nicht den Laptop. Unsere Leute suchen noch danach.» Vanzetti schob eine kurze Pause ein. «Bestimmt haben Sie sich Gedanken darüber gemacht, was denn so Wichtiges darauf gespeichert sein könnte.»

«Schon, ja, aber ich weiss es nicht. Vielleicht sind es einfach private Briefe oder Mails. Oder ein Tagebuch.»

Vanzetti warf Saxer einen kurzen Blick zu.

Der winkte mit dem Zeigfinger ab.

Es war Zeit zum Aufbruch. «Noch eine Frage zum Schluss, Frau Christen. Ist in der Woche vor ihrem Tod irgendetwas Seltsames passiert? Es muss nichts Grosses gewesen sein. Vielleicht nur eine Kleinigkeit. War etwas anders als sonst?»

Christen schaute über Vanzettis Schulter zum Fenster hinaus und legte die Stirn in Falten. Plötzlich drehte sie ihm den Kopf zu. «Es gab ein paar komische Anrufe in der vergangenen Woche. Mehrmals. Es klingelte, und ich hob ab. Am anderen Ende hörte ich jemanden atmen, doch es meldete sich niemand. Dann legte der Anrufer einfach auf. Ich dachte nicht gross darüber nach, das kommt ab und zu vor. Aber jetzt … Meinen Sie, das könnte wichtig sein?»

Sie würden sich die Telefondaten besorgen müssen. «Ich weiss es nicht, Frau Christen. Möglicherweise.»

6

Zoe hatte eben erst an ihrem Pult im Newsroom Platz genommen und den PC eingeschaltet, als Chefredaktor Jürg Nyffeler auf sie zusteuerte. Er hatte die Ärmel seines hellblauen Hemdes hochgekrempelt und die schwarze Krawatte gelockert – kein gutes Zeichen. «Gut, dass Sie da sind, Frau Zwygart. Kommen Sie bitte mit.» Er machte kehrt und marschierte davon.

Zoe stutzte und warf einen schnellen Blick auf die roten Digitalziffern an der Wand: 19.48 Uhr. Kein Problem, das würde locker reichen bis zum Redaktionsschluss.

Zoe eilte hinter Nyffeler her, das Tastengeklapper und die Gespräche verstummten, die Blicke sämtlicher Kolleginnen und Kollegen von ihren Plätzen folgten ihnen. Wussten die mehr als sie?

Statt auf Nyffelers Büro, wie Zoe erwartet hatte, hielten sie auf das Treppenhaus zu. Nyffeler nahm auf dem Weg nach oben immer zwei Stufen auf einmal, Zoe hielt mühelos mit ihm Schritt. Was sollten sie denn in der Chefetage?

Im Steigen drehte er sich zu ihr um. «Bitte reden Sie nur, wenn Sie gefragt werden.»

«Was –»

Nyffeler hob einen Finger. «Kein Wort.»

Seine buschigen Augenbrauen zuckten, was auf Stress hindeutete. Also biss sie sich auf die Zunge. Der Chefredaktor war in dem Jahr, seit sie nun bei den Berner Nachrichten arbeitete, immer fair zu ihr gewesen. Und dass sie sich mit ihrer grossen Klappe regelmässig in die Nesseln setzte, wusste Zoe selber.

Im 4. Stock marschierte Nyffeler auf den grossen Konferenzraum zu, in dem die Ressortchefs jede Woche ihre Ideen und Pläne austauschten. Als er die dicke Eichentür aufstiess, drehten sich ein halbes Dutzend Köpfe in ihre Richtung.

«Frau Zwygart, Sie kennen die Anwesenden ja», sagte Nyffeler.

Falsch. Auf Anhieb erkannte Zoe nur zwei Personen: Rudolf von Känel, den Verleger der Berner Nachrichten, und den selbst ernannten Starjournalisten Andy Walker. Soweit Zoe es beurteilen konnte, war sie mit mindestens zwanzig Jahren Abstand die Jüngste im Raum. Die einzige Frau. Und die einzige ohne Anzug und Krawatte. Wie Ameisen fühlte sie die kritischen Blicke der Männer über ihre engen Jeans und die nackten Arme krabbeln.

Nyffeler setzte sich ans untere Ende des langen Tisches. «Meine Herren, wie Sie wissen, war Frau Zwygart verantwortlich für die Berichterstattung über die Mordserie im vergangenen Herbst.»

Ein paar der Anwesenden nickten. Sie setzte sich neben Nyffeler auf einen freien Stuhl, ein Typ mit Ziegenbärtchen links von Zoe begaffte die Tattoos auf ihrem Arm.

Sie checkte kurz den Saal ab, den sie noch nie hatte betreten dürfen: gemalte Porträts von ehemaligen Verlegern an dunklen Holzpaneelen, dazu diverse gerahmte Auszeichnungen für die beste Geschichte, den besten Fotografen, den besten Leitartikel. Gipsdecke mit Stuckverzierungen und einen Kronleuchter über der mächtigen Tischplatte gab es auch. Kaffeetassen und Wasserflaschen standen darauf in unterschiedlichen Stadien des Konsums. Und in der Mitte leuchtete das rote Licht an der Telefonanlage. Da war noch jemand zugeschaltet. Was zum Henker ging hier vor sich?

«Sie haben gute Arbeit geleistet im vergangenen Jahr», sagte von Känel ganz oben am Tisch. Er war gross und hatte breite Schultern, die unter dem teuren Jackett leicht nach unten sackten. Dafür war sein Haar voll und weiss, was die Farbe seiner wässrig-blauen Augen noch intensiver wirken liess.

Zoe hatte ihn erst einmal gesehen, aus der Ferne, an der letztjährigen Weihnachtsfeier.

Er räusperte sich. «Es ist wohl allen klar, dass wir hier in ein Wespennest stechen. Wir dürfen uns keine Fehler erlauben.»

«Meine Rede. Deswegen sollten das Profis übernehmen», sagte Walker. Sein silberblondes Haar war kurz geschnitten, er trug einen dunkelblauen Anzug und eine rote Krawatte über dem weissen Hemd.

Aber sicher doch, Andy, ein Profi wie du. Zoe wusste, dass sein Name auf einigen der Urkunden an der Wand prangte. Doch sie wusste ebenso, dass Walker nur zu gerne andere für sich arbeiten liess und dann den Ruhm alleine einheimste.

«Wie sehen Sie das denn, Frau Zwygart?», fragte von Känel.

«Äh … Worum geht es hier eigentlich?», fragte sie.

Walker setzte ein klimatisiertes Lächeln auf, das seine gebleichte obere Zahnreihe freilegte. «Genau das meinte ich.»

Zoe wischte den Spruch mit einer Handbewegung weg. «Dass sich diese Sitzung um den Mord an Ständerätin Bärtschi dreht, kann ich mir ja denken. Aber worüber reden wir hier genau?»

Nyffeler hob einen Finger. «Sorry, mein Fehler. Ich bin gar nicht dazu gekommen, Frau Zwygart aufzuklären. Wir beraten, wie wir die Berichterstattung handhaben wollen.»

Und dafür war eine Sitzung mit all diesen Typen nötig?

Links von Walker räusperte sich ein Mann. «Ist es korrekt, dass ein Polizist einen unserer Fotografen am Tatort angegriffen hat?» Er hatte ein rundes Gesicht und so rote Wangen, als hätte er Rouge aufgetragen.

Das war vor knapp einer Stunde gewesen. Aebi hatte es offenbar kaum erwarten können, seinen Chefs ins Gilet zu heulen. Zoe schüttelte den Kopf. «Dafür ist er selbst verantwortlich. Er hat den Polizisten provoziert.»

«Aber der Polizist ist physisch aggressiv geworden?» Im Blick von Rotbäckchen lag etwas Hungriges, als könnte sie ihm vielleicht einen leckeren Happen hinwerfen.

Plötzlich fiel bei Zoe der Groschen: Rotbäckchen, das war FDP-Nationalrat Claude Gygax, ein Schwergewicht im Parlament – in jeder Beziehung. «Ja, aber –»

«Vielleicht könnten wir das für unsere Zwecke nutzen», sagte Gygax schon an von Känel gewandt.

Der nickte. «Möglicherweise.»

Was zum Teufel tat Gygax denn hier? «Sie hören mir nicht zu», warf Zoe ein. «Den Polizisten trifft keine Schuld.» An ihrem Schienbein spürte sie einen leichten Tritt.

Nyffeler neben ihr schüttelte den Kopf, dann räusperte er sich. «Kommen wir zurück zur Berichterstattung. Wer übernimmt den Lead?»

Walker hüstelte. «Ich bin jetzt seit 15 Jahren bei den Berner Nachrichten und habe einiges geleistet in dieser Zeit. Sie wissen alle, dass Sie sich auf mich verlassen können. Frau Zwygart hat einmal Glück gehabt, keine Frage. Aber das ist kein Grund, dass alle vor einer Anfängerin auf die Knie gehen. Sie soll sich zunächst ein paar Meriten verdienen, wenn sie die grossen Storys haben will. Danach kann sie sich gerne wieder melden. Bei so einer grossen Kiste sollte jemand Verantwortung tragen, der die notwendige Erfahrung besitzt.»

Betretene Stille trat ein, die Verleger von Känel schliesslich unterbrach. «Was denkst du, Jürg?», wandte er sich an Nyffeler.

«Andy hat zweifellos viel geleistet für die Berner Nachrichten. Doch die Artikel von Frau Zwygart bewegten unsere Leserinnen und Leser wie keine anderen Storys in den vergangenen acht Jahren. Seit Oktober sind unsere Verkäufe an den Kiosken um acht Prozent gestiegen, bei den Abonnenten haben wir um elf Prozent zugelegt. Die E-Mail-Resonanz auf ihre Artikel ist so gross wie bei keinem anderen Redaktor. Zudem zitiert uns die Konkurrenz heute deutlich öfter als im letzten Jahr, das Schweizer Fernsehen inklusive. Wenn wir das also aus rein marktwirtschaftlicher Sicht betrachten …» Er drehte beide Handflächen gegen oben.

«Ich weiss nicht.» Der Typ mit dem Ziegenbärtchen studierte Zoe wie eine Speisekarte. Er war um die fünfzig, schlank, trug einen modischem Kurzhaarschnitt und eine schicke blaue Brille. «Frau Zwygart scheint mir etwas gar unbekümmert und jugendlich.»

Verflucht, mit 29 war sie doch kein kleines Mädchen mehr. «Ich kann durchaus –»

Nyffeler legte ihr eine Hand auf den Arm. «Vielleicht ist genau das ihr Kapital. Mit ihrem Stil und ihrer Sprache scheint Frau Zwygart einen Nerv bei den Leserinnen und Lesern zu treffen, vor allem bei der jungen Generation.»

Mit der Spitze eines Bleistifts tippte von Känel auf ein Blatt Papier vor sich, in seinem Kopf schien er Geldbündel zu zählen. «Fühlen Sie sich der Sache gewachsen, Frau Zwygart?»

Zoe verbarg ihre Fäuste unter dem Tisch. «Absolut.»