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Beat Glogger

ZWEIMALTOT

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Alle Rechte vorbehalten

© 2019 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Projektleitung: Beatrice Rubin

Satz: Morris Bussmann

Cover: Fabienne Steiger

eISBN 978-3-7245-2358-1

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2324-6

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt. Der Autor wurde für dieses Werk unterstützt durch Pro Helvetia und die UBS Kulturstiftung.

www.reinhardt.ch

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Für Sebastian

An diesem Buch habe ich fast zehn Jahre gearbeitet. Es entstand in einer Zeit, in der ich sehr viel nachgedacht habe über das menschliche Gehirn, über das Bild, das jeder Mensch von sich selbst hat, und über meinen geistig behinderten Sohn.

Das Schreiben hat mich während seines Erwachsenwerdens begleitet und über die Zeit hin, in der er sich vom Elternhaus abzulösen begann. Darum ist das Buch ihm gewidmet. Aber es ist kein Buch über ihn. Es ist ein Buch über mich.

Beat Glogger

Inhalt

1 DAS BUCH TINA

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

2 DAS BUCH CHRISTOPH

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

3 DAS BUCH FRANK

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

4 DAS BUCH MERCEDES

Dank

1

DAS BUCH TINA

1

Das dumpfe Krachen hallt lange nach. Draußen auf dem Flur – und drinnen in meinem Kopf. Ich starre auf die Tür aus grauem Stahl und höre das Surren der Schließanlage.

Zeit vergeht. Ich tue nichts, denke nichts. Schließlich nehme ich Maß, mache einen Schritt auf die Tür zu – und trete mit aller Kraft dagegen. »Lasst mich raus!« Nochmal, volle Wucht. »Scheißkerle!«

Stille.

Ich mustere das Grau der Tür. Der Abdruck der groben Profilsohle meines Springerstiefels ist deutlich zu sehen. Darunter und daneben weitere Abdrücke verzweifelter Tritte. Grobe, feine, deutliche, verwischte. In der Scheibe des Guckfensters spiegelt sich mein Gesicht. Das Haar ist zerzaust, die Schminke verschmiert. Ich wende mich ab.

Da ist ein Stuhl, ein Tisch, beide am Boden festgeschraubt. Ein Bett aus Beton gegossen, in der Ecke eine Toilette ohne Deckel. Wie lange wollen die mich hier festhalten? Hat es mir jemand gesagt? Vielleicht der Beamte, der irgendeinen Gesetzesartikel zitierend »Tina Benz, wohnhaft in Zürich« in Untersuchungshaft gesetzt hat?

»Ich will sofort meinen Anwalt sprechen«, habe ich protestiert – als hätte ich einen Anwalt.

»So läuft das nur im Krimi«, sagte der Mann, während er den schmalen Aktenordner schloss.

Jetzt Stille um mich herum. Wenn ich mein Gehör anstrenge, ist irgendwo weit weg ein Hämmern wahrzunehmen. Ein Klopfen. Meine Knie beginnen zu zittern. Was ist passiert? Wie komme ich hierher? Ich kann mich nicht erinnern. Und das beunruhigt mich fast noch mehr als die Tatsache, dass ich in einer Zelle sitze.

Die Ereignisse sind an mir vorbeigezogen wie ein zu schnell laufender Film mit Kratzern und Rissen. Ich bringe die Szenen nicht zusammen – zu nichts, das Sinn ergibt. Ich treibe mitten in einem Strudel und habe doch das Gefühl, es hätte alles nichts mit mir zu tun.

Jetzt zittert auch meine Unterlippe. Ich beiße fest darauf. Sie zittert weiter. Ich kenne das. So kündigt es sich immer an, bevor es aus mir herausbricht. Jetzt nur keine Panik! Durchatmen. Das Zittern hält an.

Ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett. Erst jetzt sehe ich das Buch, das auf dem Tisch liegt. Ich nehme es in die Hand. Eine Bibel. »Was zum Teufel …« Ich schmettere das Buch an die Wand. Wollen die mich hier etwa bekehren? Ein Gesetzesbuch würde mir mehr nützen. Eine Strafprozessordnung oder wie auch immer das Ding heißt. Damit hätte ich wenigstens herausfinden können, wie ich hier wieder rauskomme. Ich trete mit dem Fuß gegen die zerfledderte Bibel, sodass sie quer durch den Raum schliddert, bis zur Toilette ohne Deckel. Dann werfe ich mich auf das Bett. Es ist schmal und hart. Mein ganzer Körper zittert jetzt. »Lasst mich raus!« Tränen schießen mir in die Augen. »Frank!«

Mein Körper krümmt sich, ich winde mich vor Schmerz. Die Tränen laufen mir über das Gesicht. Ein Wimmern und Winseln dringt aus meinem Mund. Dann sehe ich plötzlich seine Augen. Diese Augen, die weit aufgerissen ins Leere stieren, als wäre er tot. Ich sehe ihn, wie er da liegt auf dem Kopfsteinpflaster. Ich sehe mich, wie ich ihn anschreie: »Frank!« Wie ich seinen Puls suche, mein Ohr vor seinen offenstehenden Mund halte, um den Atem zu spüren. Und wieder diese Augen, die mich nicht ansehen, sondern durch mich hindurch.

»Frau Benz?«

Ich fahre zusammen. Es ist nicht Franks Stimme, sondern die einer Frau. »Frau Benz, sind Sie okay?«

Ich habe die Frau nicht kommen hören und auch nicht gesehen. Sie beugt sich über mich. Sie ist jung, blond, mit Pferdeschwanz. Ihre Hand liegt auf meiner linken Schulter. An ihrem Gürtel hängt ein Paar Handschellen.

»Was ist mit Frank?«, frage ich, während ich mir die Augen trockenwische.

»Ich weiß es nicht«, sagt die Polizistin überraschend freundlich. »Ich bringe Sie jetzt zum Untersuchungsrichter, der hat ein paar Fragen.«

Ich rappele mich auf. Sie fasst mich am Ellbogen – nicht hart, aber bestimmt – und schiebt mich in Richtung Tür. Auf dem Korridor stolpere ich, doch die Polizistin fängt mich auf, bevor ich falle. Ich sehe auf meine Stiefel. »Wo sind meine Schnürsenkel?«

»Eine Vorsichtsmaßnahme«, sagt die Polizistin und blickt mich ernst an. »Sie waren wirklich sehr, sehr aufgebracht.«

»Wie viel Uhr ist es?«, frage ich.

»Fünf«, sagt die Polizistin.

Ich versuche zu rekonstruieren: Das mit Frank war in der Nacht. Wann sie mich hierhergebracht haben, kann ich nicht sagen.

»Fünf?«, frage ich.

»Nachmittags«, sagt sie und räuspert sich. »Sie sind bereits den zweiten Tag hier.«

Ich starre sie an. »Das heißt, ich habe … wie lange geschlafen?«

»Sie waren zwischendurch schon mal wach«, sagt die Polizistin. »Wir haben Ihnen etwas gegeben, damit Sie sich entspannen.« Sie schiebt mich weiter. »Etwas gegeben«, höre ich mein Echo. Die haben mich außer Gefecht gesetzt. Das bedeutet, ich bin schon einen Tag, eine Nacht und noch mal fast einen Tag hier. Und weiß noch nicht mal, warum.

»Was ist mit Frank?«, frage ich den Mann, in dessen Büro die Polizistin mich führt.

»Landis«, sagt der Mann. »Untersuchungsrichter.«

Ein bleicher Mittfünfziger in einem schmucklosen Raum. Ein riesiger Schreibtisch, davor zwei Stühle.

»Setzen Sie sich«, sagt er und wartet, bis ich seiner Aufforderung Folge leiste. Dann sagt er: »Professor Stern hat … überlebt.«

»Überlebt.« Ich entspanne mich. Begreife aber gleichzeitig, dass das nicht die Antwort auf meine Frage war. »Wie geht es ihm?«

Der Untersuchungsrichter rückt einen Stapel Papiere auf dem Schreibtisch zurecht. »Er befindet sich auf der Intensivstation des Universitätsspitals«, sagt er. »Frau Benz, was haben Sie vorgestern gemacht?«

»Bitte«, sage ich. »Wie geht es ihm?« Landis richtet den Papierstapel exakt an der Tischkante aus. »Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

Das Zittern kommt wieder. In den Händen, in der Lippe.

»Meine Aufgabe ist, den Tathergang zu rekonstruieren. Beziehungsweise Zeugen und Verdächtige zu vernehmen.«

»Verdächtige«, höre ich meine raue Stimme wieder wie ein Echo. »Ich bin …«

»Das werden wir sehen.« Landis mustert mich von oben bis unten. »Immerhin haben wir Sie am Tatort aufgegriffen.«

»Ich habe Frank gefunden!«

»Sie haben getobt wie eine Wahnsinnige«, sagt Landis. »Und einen Polizeibeamten tätlich angegriffen.«

Ich kann mich nicht erinnern.

Der Untersuchungsrichter beugt sich vor. »Frau Benz, warum waren Sie am Tatort?«

Ich schlucke. »Ich wollte zur Arbeit.«

»Mitten in der Nacht?«

»Frank – Professor Stern hat mich darum gebeten.«

»Ich wiederhole: Mitten in der Nacht?«

»Wir waren … wir sind extrem unter Druck.«

Der Untersuchungsrichter wartet. »Druck?«

»Eine Publikation in Science steht an, und eine Medienkonferenz, wo wir unsere bahnbrechenden Resultate der Öffentlichkeit präsentieren wollen.«

»Woran forschen Sie?«

»Am Brain-Machine-Interface.«

Seinem Blick entnehme ich, dass er damit nichts anfangen kann.

»Es geht um die Anbindung von Elektronik an das Gehirn und das Nervensystem des Menschen«, erläutere ich.

»Wozu das?«

»Wir entwickeln neurokognitive Prothesen.«

Der Untersuchungsrichter hebt fragend eine Augenbraue.

»Das sind Prothesen, die der Patient allein mit den Gedanken steuern kann und mit denen er auch fühlen kann.«

»Okay«, sagt er. »Ich werde mich darüber informieren.« Er rückt den Papierstapel wieder fünf Zentimeter von der Tischkante weg. »Also nochmal: Warum waren Sie am Tatort? Was haben Sie dort gemacht? Was haben Sie den ganzen Tag zuvor gemacht? Möglichst detailliert, bitte.«

Ich versuche, mich zu erinnern. Was hat mein Gedächtnis derart durcheinandergebracht? Ich hole tief Luft. »Bis Mittag habe ich geschlafen.« In dem Moment fällt mir ein, dass ich den Postboten unten auf der Straße gesehen habe. Der kommt immer etwa um elf. »Nein, bis etwa elf Uhr«, korrigiere ich.

»Schlafen Sie immer so lange?«, fragt Landis und kramt in den Papieren vor sich. »Sie arbeiten doch an der Uni. Wissenschaftliche Mitarbeiterin – steht hier jedenfalls.«

Haben die etwa bereits Erkundigungen über mich eingeholt? Und ich weiß noch nicht mal, warum sie mich hier festhalten. Ich unterdrücke den Reflex, den Mann anzufauchen, atme zweimal durch und sage dann möglichst ruhig: »Wir hatten bis morgens um zwei gearbeitet. Achtzehn Stunden am Stück!«

»Wer ist wir?«, fragt er. »Professor Stern und Sie?«

»Ja.«

»Wer sonst war noch dabei?«

»Niemand.«

Er nickt langsam. »Und dann haben Sie also den ganzen Morgen geschlafen. Was geschah dann?«

Ich war mies drauf, hatte schlecht geschlafen. Die Temperatur war in der Nacht nicht unter fünfundzwanzig Grad gesunken und in meiner Dachwohnung half alles Lüften nichts. Als ich erwachte, war es kaum mehr auszuhalten. Ich duschte, trank Kaffee, duschte noch einmal. Ich hatte mich noch nicht abgetrocknet, da klingelte das Telefon. Frank. Er wollte wissen, wo ich bliebe, wir seien doch verabredet.

»Ich bin völlig fertig«, sagte ich.

»Ich auch«, knurrte er. »Aber es gibt noch viel zu tun.«

»Ich kann nicht.«

»Was heißt das? Wir haben Termine.«

»Ich muss zuerst noch etwas erledigen«, sagte ich. Und schob dann nach: »Außerdem brauche ich noch einen Moment, nach dem, was gestern vorgefallen ist.« Bevor ich den Satz beenden konnte, hatte Frank schon aufgelegt.

»Sie hatten sich in besagter Arbeitsnacht gestritten«, unterbricht Untersuchungsrichter Landis, wobei er die Betonung bewusst auf Arbeit legt.

»Nicht gestritten …«, begehre ich auf.

»Das erzählt uns aber eine Nachbarin aus Ihrem Haus. Die Frau arbeitet in einer Bäckerei und muss jeweils früh raus. Sie sei Ihnen morgens um halb drei im Treppenaus begegnet, sagt die Frau. Und sie hat Sie als sehr aufgebracht wahrgenommen. Geradezu wütend seien Sie gewesen. Worum ging es in diesem Streit mit Herrn Professor Stern?«

Ich bin verblüfft. Tatsächlich haben die Bullen bereits Nachforschungen angestellt, haben Leute befragt. Tut man das, um eine Zeugin zu überprüfen? Mir wird klar, als was ich hier sitze: Die verdächtigen mich. Ich versuche, das Zittern in meiner Lippe zu ignorieren, dann sage ich: »Nichts Besonderes. Eine Meinungsverschiedenheit. Es ging um die Publikation, die wir gerade vorbereiten. Aber das ist normal in der Wissenschaft. Auseinandersetzungen gehören zur Meinungsfindung.«

Landis lässt sich Zeit. »Wenn das also ganz normal ist, wie Sie sagen, warum hat es Sie dann derart mitgenommen, sodass Sie am nächsten Tag nicht mehr ins Institut wollten?«

»Ich wollte ja hin. Bloß etwas später. Ich brauchte noch einen Moment für mich allein.«

Landis nimmt ein Papier vom Stapel. »Auszug aus dem Polizeiprotokoll«, beginnt er dann in gestelztem Ton zu lesen. »Beschwerde wegen Lärmbelästigung, Dienerstraße 23. Nachbarn beschweren sich über eine Frau, die auf dem Balkon eines gegenüberliegenden Hauses den ganzen Nachmittag in übermäßiger Lautstärke Musik hört – Klammer, Death Metal, Klammer geschlossen – und weder auf Zurufe noch Klingeln an der Haustür reagiert. Die Frau liegt nackt in einer Hängematte und hat unter sich eine große Lautsprecherbox aufgestellt. Eine Streife wird um 20:30 Uhr angewiesen, nach dem Rechten zu sehen. Dringlichkeitsstufe niedrig. Als die Streife um 21:04 Uhr vor Ort eintrifft, ist die Musik nicht mehr zu hören. Die Wohnungstür ist nicht abgeschlossen. Die Beamten öffnen, fordern allfällige Anwesende durch Rufen zum Herauskommen auf. Nachdem niemand reagiert, unterziehen die Beamten die Wohnung einer Inspektion. Es sind keine Personen anwesend. Da auch die Lärmbelästigung aufgehört hat, entfernen sich die Beamten wieder.«

Während Landis liest, erinnere ich mich: Ich lag in der Hängematte, irgendwann gab mein Handy den Klingelton von sich, den ich Frank zugewiesen hatte. Dass ich das hörte, war reiner Zufall, weil gerade eine Pause zwischen zwei Musikstücken war.

»Jaaa«, sagte ich so gedehnt, dass jedem halbwegs anständigen Anrufer sofort klar sein musste, dass er störte.

»Wo bist du?«, fragte Frank.

Ich konnte es nicht lassen und gähnte laut. »Zu Hause.«

»Tina, wir müssen uns noch mal reinhängen.«

Ich schaukelte ein paarmal hin und her. »Momentan hänge ich ganz gut.« Ich hörte an Franks Pause, dass er sich bereits aufzuregen begann. Aber ich wollte es ihm nicht leicht machen.

»Tina, übermorgen ist Abgabe für das Manuskript. Ich brauche dich dringend, um die letzten zwei Grafiken zu diskutieren.«

»Lass uns zuerst die andere Frage klären«, tat ich unbeeindruckt. »Wolltest du mir eben mitteilen, ich hänge mich zu wenig rein, ich arbeite zu wenig?«

»Nein, wollte ich nicht.« Frank war genervt. »Lass uns jetzt einfach mal das von gestern Abend vergessen, ja? Konzentrieren wir uns auf das, was wir jetzt zu tun haben.« Er schwieg einen Moment. »Ich brauche dich. Bitte.«

Bitte, hatte er gesagt. Ich blinzelte durch die Gitterstäbe des Balkongeländers. Der tief hängenden Sonne nach zu urteilen, war es wohl etwa halb neun Uhr. Mein gefühltes Thermometer lag immer noch bei mindestens 25 Grad Celsius. Doch Frank hatte bitte gesagt. Also erbarmte ich mich. »Gleich geht die Sonne unter«, sagte ich. »In einer Stunde bin ich im Institut.«

»Okay«, sagte er. Die Erleichterung war ihm anzuhören. »Dann gehe ich kurz eine Pizza essen und bin wieder zurück, bis du kommst. Danke.«

Wie immer nahm ich das Fahrrad. Die Rosengartenstraße hinauf. Die ist zum Radfahren eigentlich ein Horror: zu steil und zu viel Verkehr. Seit Jahrzehnten warten die Leute hier auf die Verkehrsentlastung, die man ihnen mit dem Bau des Autobahnrings um die Stadt herum versprochen hat. Seit ich mich erinnern kann, tobt um diese Straße ein politischer Kampf. Meine erste Demonstration war hier – eine Velodemo. Ein paar hundert Leute ließen wir uns vom Bucheggplatz hinunterrollen: so langsam und über alle Fahrspuren verteilt, dass sich der ganze Verkehr staute. Und weil dies eine der Hauptverkehrsadern durch die Stadt ist, breitete sich das Ganze im Handumdrehen zu einem Verkehrschaos in der ganzen Stadt aus. Gebracht hat die Aktion nichts, aber mich hat sie politisiert. Ich war vierzehn. Ich war für Gerechtigkeit. Nach diesem ersten politischen Erlebnis habe ich öfters an Kundgebungen teilgenommen: für Umweltschutz, gegen Folter, für Gleichberechtigung, gegen Diskriminierung. Ich war sehr engagiert. Bis dann das mit meiner Mutter passierte und ich für fast nichts mehr Zeit fand.

»Danke«, hatte Frank gesagt. Bitte und danke. Ich musste lächeln. Jetzt freute ich mich, ihn gleich wiederzusehen. Ich war sicher: Wenn ich oben ankam, würden wir uns wieder vertragen. Wir hatten uns noch jedes Mal zusammengerauft.

2

Wieder zurück in der Zelle bleibe ich mit dem Rücken zur Tür stehen. Was die Polizistin sagt, ignoriere ich. Die Schließanlage schnarrt, danach bin ich wieder allein mit Stuhl, Tisch, Bett aus Beton.

Die zerschlissene Bibel hat man während meines Verhörs weggeräumt – und eine neue auf den Tisch gelegt. Ich verstehe die Botschaft: »Schmeiß du die Bibel an die Wand, so oft du willst. Wir werden sie immer wieder ersetzen.« Darum geht es hier: mich zu zermürben, mich weichzukochen, bis ich alles zugebe. Zu dieser Taktik gehören auch die Kleider, in die sie mich gesteckt haben: derbe graue Hose, graues Sweatshirt, ohne Individualität, ohne Identität. Sie wollen, dass ich mich aufgebe, mich ihnen übergebe und ihnen alles erzähle. Doch Druck hat mich bisher immer nur stärker gemacht. Und erzählt habe ich ihnen schon alles: Frank muss einen Herzinfarkt erlitten haben. Oder einen Hirnschlag. Eher einen Hirnschlag, denn schon sein Vater hatte mehrere Schlaganfälle und ist schließlich an einem gestorben. Genauso sein Bruder. Der wurde keine vierzig. Frank hatte immer Angst davor.

Bis ich das Universitätsgelände erreichte, war es dunkel, aber nicht kühler. Die Kleider klebten mir schweißnass am Leib. Ich radelte quer über den Campus bis zu dem Gebäude, in dem die Hirnforschung untergebracht ist. Ein schlichter Zweckbau aus Beton, Stahl und Glas. In einigen Büros brannte noch Licht und aus einem offenstehenden Fenster tönte Salsamusik. Die beiden Stockwerke der Hirnforschung jedoch waren dunkel.

Seltsam, dachte ich. Frank wollte doch wieder in seinem Büro sein, bis ich eintraf. Dass er länger in der Pizzeria geblieben war, schloss ich aus – es hätte nicht zu ihm gepasst. Er aß immer schnell, war immer schnell wieder zurück bei der Arbeit. Wahrscheinlich ist er noch einmal zu den Affen hinuntergegangen, überlegte ich, obwohl das natürlich Unsinn war, denn wir wollten ja die grafischen Darstellungen für den Artikel diskutieren. Die Tierexperimente waren abgeschlossen.

Ich hatte das Fahrrad noch nicht abgestellt, da sah ich im fahlen Licht das Bündel vor der Eingangstür liegen. Ein Bündel, wie ich schon einmal eines am Boden gesehen hatte. Ich warf das Fahrrad hin und lief zu der regungslosen Gestalt auf dem Kopfsteinpflaster. Damals war es Kiesboden. Damals sie, jetzt er.

»Frank!«, rief ich. Ich klatschte ihm meine Hände auf die Wangen. »Frank, sag was!« Ich packte sein Handgelenk, meine bebenden Finger fühlten keinen Puls. »Hilfe!«, schrie ich. Ich suchte den Puls am anderen Handgelenk, suchte ihn am Hals. »Bitte, Frank!« schrie ich in die Nacht hinaus.

»Was ist los?«, rief jemand oben aus einem Fenster.

Ich riss Franks Hemd auf, tastete nach dem Herzschlag. Presste links auf die Rippen, drückte rechts. Dann wuchtete ich mein ganzes Gewicht auf seinen Brustkasten, hockte mich auf ihn, wippte auf und ab, bis ich keuchte. Wie lange ich das tat, weiß ich nicht mehr.

Auf einmal zuckte die Umgebung in blauem Licht, schrillte eine Sirene. Ein Rettungssanitäter schob mich zur Seite. »Wie lange war er ohne Sauerstoff?«, fragte er. Ein weiterer Sanitäter setzte Frank eine Atemmaske auf, ein anderer schlug eine Kühldecke um seinen Körper. »Kühlung reduziert die Gefahr eines Hirnschadens«, sagte er, ohne dass ich danach gefragt hatte. Eine Infusion wurde gesteckt, dann fuhren sie davon.

Ich blickte den Lichtern nach. Dann wurde es schwarz in meinem Kopf.

»Es gibt Neuigkeiten«, sagt Untersuchungsrichter Landis bei der nächsten Vernehmung zur Begrüßung. »Die Ärzte haben Professor Stern noch einmal eingehend untersucht. Wir wissen nun genauer, was sich in jener Nacht zugetragen hat.« Er beobachtet meine Reaktion. »Ein Herzinfarkt war es nicht. Und dass Herr Stern einen Hirnschlag erlitten hat, kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Es fehlen die typischen Verletzungen. In der Regel stürzen die betroffenen Personen zu Boden, ziehen sich dabei Schürfungen zu, Prellungen, Blutergüsse. Dergleichen gibt es bei Professor Stern nicht. Dafür ist sein Brustkorb massiv geschädigt.«

»Das kommt von der Herzmassage«, werfe ich ein, als hätte ich mich zu verteidigen.

»Kann sein«, sagt Landis. »Aber es sind nicht nur Rippen in der Gegend des Herzens gebrochen, sondern auch auf der rechten Seite. Und besonders seltsam: auch seitlich am Körper. Außerdem ist der Kehlkopf eingedrückt.« Er mustert mich mit dem lauernden Blick eines Jägers, bevor er sagt: »Professor Stern wurde stranguliert. Dabei muss sein Gehirn für längere Zeit ohne Sauerstoff gewesen sein. Heute Morgen ist er ins Koma gefallen.«

Lautlos öffnet und schließt sich mein Mund, als ob er eine Antwort formulieren wolle, die es gar nicht gibt. Koma, denkt irgendein noch nicht betäubter Teil meines Gehirns. Dann höre ich durch den Nebel in meinem Kopf, wie Landis etwas von Spurensicherung sagt, von Fasern, die an den Kleidern des Professors gefunden wurden, dass es eine ganze Anzahl verschiedener Fasern sei – wie immer bei Personen, die mit vielen Leuten Kontakt hatten –, dass es aber von einer bestimmten Faser eine beträchtliche Menge gäbe, und dass diese Fasern zu dem – wie er meinte »doch eher aussergewöhnlichen« – Kleid passen, das ich in besagter Nacht getragen habe.

Irgendwie schaffe ich es, Landis zu erklären, dass die Fasern bei meinen Wiederbelebungsversuchen auf Franks Kleider gelangt sein müssen, dass ich ihn wahrscheinlich auch aufgerichtet habe, ihn dabei umarmt habe, auch wenn ich wisse, dass man einen Bewusstlosen so nicht anfasst, dass ich aber in schierer Panik gewesen sei und so möglicherweise die Kontrolle über mich selbst – zumindest zeitweise – verloren hätte.

»Ihr Kleid«, sagt Landis, »wenn ich mir diese persönliche Bemerkung erlauben darf, gehört eher … zu der ausgefallenen Sorte.«

Schlagartig erwache ich aus der Trance, in der ich mich seit der Nachricht von Franks Koma befand. Jetzt beginnt das wieder! Immer wieder kommt es. Ich fixiere Landis, diesen zu klein geratenen, mit früher Glatzenbildung gestraften, sich selbst aber unendlich toll findenden Wicht. »Was tut mein Kleidungsstil hier zur Sache?«, frage ich scharf. »Machen mich meine Klamotten zur Verdächtigen?«

Mein Stil ist meine Sache. Und er war schon immer speziell. Einmal hat mich die Kindergärtnerin wegen meines »unmöglichen Aufzugs« nach Hause geschickt. Tags darauf kam meine Mutter in den Kindergarten und machte der Frau klar, dass »Tina anzieht, was ihr gefällt«. Das war eine der wenigen mutigen Aktionen, die mir von meiner Mutter in Erinnerung geblieben sind. Wenn nicht die einzige. Doch das sage ich Landis nicht.

Am Abend, an dem das mit Frank geschah, trug ich trotz der Hitze meine blauen Springerstiefel, dazu das Ballettröckchen aus schwarzem Tüll und das schwarze Mieder. Klar etwas besonderes. Die Klamotten gefallen Frank. Ich hatte sie gewählt, um ihm eine Freude zu bereiten, weil ich mich schlecht fühlte wegen der Sache vom Vorabend und weil ich nicht sofort ins Institut gefahren war, als er mich darum gebeten hatte. Das war natürlich Provokation gewesen, klar. Wäre vielleicht nicht nötig gewesen, auch klar. Aber es ist halt einfach geschehen so wie es immer wiedermal geschah. »Oppositionelles Verhalten«, hatte es die Schulpsychologin genannt, welche von meiner Klassenlehrerin zu Rate gezogen wurde. Die Pillen, die sie mir verschrieben, habe ich zuerst in die Toilette geworfen, bis ich den wahren Wert von Ritalin erkannte. Auf dem Schulhof ging das Zeug weg wie frische Semmeln.

»Nein«, sagt Landis. »Ihre Kleider tun für den Tathergang nichts zur Sache.« Er überlegt einen Moment. »Warum reden Sie eigentlich immer von Frank? Immerhin war er doch nicht einfach ein Kollege, sondern Ihr Professor, Ihr Vorgesetzter.«

»Das ist so üblich an der Uni. Wir duzen uns alle. Wie es Polizisten untereinander tun.«

»Was für ein Verhältnis haben Sie und Professor Stern?«, fragt Landis.

»Ein gutes«, sage ich.

»Ein spezielles«, sagt er. »Das haben wir von Mitarbeitern des Instituts erfahren.«

»Ein speziell gutes«, beharre ich.

Frank und ich ergänzen uns ideal. Und wir beide wissen, dass wir alles, was wir in diesem vergangenen Jahr vollbracht haben, nur gemeinsam haben vollbringen können. Und, dass wir nur so erfolgreich zusammenarbeiten können, weil wir derart verschieden sind. Unsere Verschiedenheit ist unsere Stärke, unser Antrieb. Sie ist Druck und Spannung zugleich. Druck und Spannung erzeugen Kreativität.

Es sind immer die Unterschiede, die die Welt am Laufen halten. Unterschiede sind die treibende Kraft: für die Verschiebung der Kontinente, das Strömen des Windes, das Fließen des elektrischen Stroms, die Liebe.

»Frau Benz, verheimlichen Sie uns etwas?«, reißt Landis mich aus meinen Gedanken.

»Nein«, sage ich eilig.

»Wissen Sie mehr über die Tatnacht, als Sie uns sagen?«

»Nein, bestimmt nicht.«

»War außer Ihnen noch jemand am Tatort?«

»Nein.«

»Nehmen wir mal an, Sie seien tatsächlich erst hinzugekommen, als Professor Stern bereits bewusstlos am Boden lag. Haben Sie jemanden gesehen, der sich vom Tatort entfernte? Ist jemand davongerannt?«

»Nein.«

»Die Verletzungen, die Professor Stern aufweist, müssen ihm laut ärztlichem Untersuchungsbericht von einem eher größeren und vor allem kräftigen Individuum zugefügt worden sein.«

Er mustert mich. »Wir weiten darum die Suche nach dem Täter aus: kräftig, groß, wahrscheinlich männlich. Vielleicht kommt ihnen noch jemand in den Sinn, der dieser Beschreibung entspricht und der ebenfalls am Tatort war.«

Wieder sieht er mich prüfend an. »Noch was zu Ihrer Rolle: Wie wir im Umfeld des Instituts erfahren haben, kannte … Entschuldigung: kennt niemand Professor Stern so gut wie Sie. Über diese Beziehung möchte ich jetzt alles wissen. Sie haben es in der Hand. Wenn Sie sich querstellen, muss ich Sie in der Kategorie der Tatverdächtigen behalten. Wenn Sie aber kooperieren, könnten Sie zu unserer wichtigsten Zeugin werden. Dann haben wir eine Chance, das Verbrechen aufzuklären.«

3

Frank Stern verharrte geduckt und lauschte. Sein Körper war angespannt – jederzeit bereit, sich auf ihn zu stürzen. Wo steckte der Kerl?

Ohne sich zu rühren, suchte Frank mit den Augen die Umgebung ab. Nichts zu sehen. Nur Äste, Blätter, Buschwerk. Nichts zu hören. Nur von weit entfernt das dumpfe Rauschen der Lüftungsanlage. Dann ein Rascheln, gleichzeitig ein gellender Schrei. Frank fuhr herum, hechtete in die Richtung, von wo der Schrei gekommen war und – griff ins Leere.

Frank lag in dem Rindenmulch. Knapp einen Meter über seinem Kopf saß ein kleiner brauner Affe und keckerte laut, als lachte er den plumpen Menschen aus. Billy wusste genau, worum es ging. Immer wieder machte er sich im letzten Moment davon, ehe der Forscher ihn zu fassen bekam. Es war ein Spiel, das der Affe erfunden hatte, und bei dem Professor Frank Stern gar nichts anderes übrigblieb, als geduldig mitzumachen.

Frank rappelte sich vom Boden auf und klopfte die Rindenstücke von der grünen Laborhose. »Ich krieg dich.«

Der Makak hangelte sich einen Ast höher, blieb sitzen, blinzelte. Die weißen Haarbüschel, die sein Gesicht einrahmten und ihn aussehen ließen wie Albert Einstein, zitterten aufgeregt. Dann kletterte der Affe Ast um Ast hoch, bis er ganz oben im Käfig hockte, gut drei Meter über dem Wissenschaftler. Als Billy mit dem Kopf das Käfigdach berührte, klimperte es metallisch.

Frank wartete.

Billy war der Boss der Gruppe und er ließ sich nicht so einfach von einem unbehaarten Zweibeiner einfangen. Die Vorführung ihres Chefs schien seine Untertanen zu unterhalten. Die anderen Affen saßen auf ihren Stammplätzen im ganzen Gehege verteilt und verfolgten, wie Billy schnatterte, keckerte und reklamierte.

Gemäß der Tierschutzvorschriften wäre es gar nicht nötig gewesen, den Affen so viel Platz zu geben, doch für Frank war es völlig ausgeschlossen, die Tiere in kleinere Käfige zu sperren, nur um es beim Einfangen leichter zu haben. Viel wichtiger war ihm, dass sich seine Schützlinge wohlfühlten. Rindenmulch auf dem Boden, Kletterbäume, die immer wieder mit frischen Ästen inklusive Laub ergänzt wurden, Lampen mit dem richtigen Farbspektrum, um Sonnenlicht zu simulieren. Je besser es den Tieren ging, desto besser arbeiteten sie bei den Experimenten mit und desto besser waren die Resultate.

»Cheeek!« machte es plötzlich so dicht neben Franks Ohr, dass er zusammenfuhr. Billy war, ohne dass der Forscher es bemerkt hätte, von seinem hohen Ast herabgestiegen und saß nun auf einem dicken Tau, das quer durch den Käfig gespannt war. Er wippte mit dem Kopf, als wollte er sagen: Ätsch!

Frank grinste und machte: »Cheeek.«

Sofort hüpfte Billy ihm auf die Schulter und hielt sich mit beiden Händen an dessen zerzaustem, von grauen Strähnen durchzogenem Haar fest.

»Cheeek«, machte Frank und zupfte den Makaken am Schnurrbart.

Billy war sein Lieblingstier: nicht nur der Stärkste in der Gruppe, sondern auch der Schlauste. Er hatte sehr rasch kapiert, worum es in dem Experiment ging. Und er hatte so rasante Fortschritte gemacht, dass Frank keinen Zweifel hegte: Sein Billy würde so berühmt werden wie Able und Miss Baker, die beiden Affendamen, die als erste Tierastronauten eine Reise ins Weltall überlebt hatten. Billy würde zu einer Symbolfigur der Forschung werden, sobald Frank ihn der Öffentlichkeit präsentierte. Die Fachwelt würde begeistert sein, die Öffentlichkeit verblüfft, und die Investoren würden Schlange stehen, um bei einer der revolutionärsten Entwicklungen der Medizintechnik dabei zu sein.

Frank trug den Affen auf seiner Schulter zum Versuchslabor. Dort setzte er ihn auf einen Stuhl von der Größe eines Autokindersitzes, schnallte ihn mit Riemen fest und klappte rund um das Tier durchsichtige Wände aus Plexiglas hoch. Zum Schluss ragte nur noch Billys Kopf oben heraus. Frank schraubte den metallenen Deckel auf, der oben auf dem Schädel des Affen saß. Ein halbes Dutzend Anschlussbuchsen wurden sichtbar. Dort schloss er verschiedenfarbige Kabel an, verband sie mit dem Überwachungsgerät und schaltete es ein. Leuchtdioden blinkten auf, Piepsignale ertönten und auf dem Monitor vor Billys Gesicht leuchtete der Schriftzug »Welcome« auf.

»Bereit?«, fragte Frank.

»Cheek.«

Auf dem Monitor erschien ein gelber Kreis.

Billy blinzelte zwei, drei Mal – dann setzte sich neben dem Affenstuhl ein Roboterarm in Bewegung. Mit leisem Surren senkte er sich zu dem Keyboard, das auf dem Tisch vor Billy lag. Aufmerksam verfolgte Billy den Weg des Arms. Dann drückte ein metallener Finger eine Taste, auf der sich ein gelber Kreis befand. Auf dem Monitor erschien ein großes, grünes »OK«, aus dem Lautsprecher erklang ein Gong. Billy keckerte.

Sofort surrte der Roboterarm zu einer Schale mit Erdnüssen, ergriff eine und führte sie zu Billys Mund. Vorsichtig legte der Affe die Lippen um die Nuss, die Roboterhand öffnete sich und der Snack verschwand in Billys Mund.

»Bravo«, flüsterte Frank, als hätte er Angst, die Konzentration des Tieres zu stören.

Auf dem Bildschirm erschien ein rotes Quadrat. Wieder blinzelte Billy, dann setzte sich der Greifarm in Bewegung. Angespannt beobachtete Frank die Kurven, die sich auf dem Überwachungsmonitor aufbauten: die Hirnströme aus verschiedenen Regionen in Billys Gehirn. Der Roboterarm drückte die Taste mit dem roten Quadrat.

»Großartig, mein Junge«, raunte Frank, während der Roboterarm zu der Schale mit den Nüssen fuhr.

Das nächste Symbol – die nächste Nuss. In immer schnellerer Folge arbeitete Billy Bild um Bild ab: roter Kreis, blaues Quadrat, grünes Dreieck, gelbes Rechteck und so weiter. Der Roboterarm drückte auf die Tastatur, sauste zu den Nüssen, fütterte Billy, ohne dass der Affe sich dazu bewegte. Er steuerte die Maschine einzig mit der Kraft seiner Gedanken.

Frank starrte auf die Monitore, veränderte Parameter, justierte die Einstellungen, machte Messungen, bis Billy innehielt und die Augen schloss. Frank kraulte ihm den Bart. »Bald fertig«, sagte er. »Du schaffst das.«

Billy erwiderte seinen Blick stumm.

»Mir zuliebe?«, fragte Frank. Dabei wusste er, dass der Affe nur mitmachen würde, wenn er selbst wollte. Solche Experimente ergaben keinen Sinn, wenn der Proband nicht fit war, wenn er nicht bereit war.

Ein Pferd konnte man vielleicht durch Tritte in die Flanke dazu bringen, mit letzter Kraft über ein Hindernis zu springen, oder es mit Gertenhieben auf der Zielgeraden antreiben bis zum Äußersten. Doch bei einem Versuchstier ging das nicht. Wenn der Affe müde war oder ganz einfach keine Lust mehr hatte, dann ging gar nichts.

Trotzdem wollte Frank jetzt nicht aufhören. Die Messungen waren einfach zu gut. »Was du tust, hat die Welt noch nicht gesehen«, sagte der Forscher beschwörend, als ob der Affe ihn verstehen könnte. »Noch ein paar Minuten?«

Billy blinzelte, dann wandte er sich noch einmal dem Keyboard zu.

Erst als Frank im vierten Stock aus dem Aufzug trat, wurde er sich der Zeit bewusst, die er unten im Tiertrakt verbracht hatte. Die Korridore, auf denen es sonst nur so wimmelte von Leuten, waren jetzt menschenleer. Draußen vor den Fenstern war es Nacht. Frank gähnte; er hatte in den letzten Wochen und Monaten wenig geschlafen und viel gearbeitet. Zu viel. Doch er war beseelt von der Idee, das Leben von Tausenden von Patienten zu verbessern. Elektronische Bauteile, die direkt mit dem Nervensystem verbunden wurden, waren für Behinderte eine Verheißung: Mit seinen Prothesen würden Amputierte wieder greifen und fühlen können, Gelähmte wieder gehen. Mit einem eingepflanzten, elektronischen Auge könnten Blinde wieder sehen, mit einem künstlichen Gehör Gehörlose wieder hören. Und er, Frank Stern, hatte dafür in jahrelanger Arbeit die Grundlage geschaffen.

Alles, was dazu noch fehlte, war Geld. Geld, mit dem er die Prototypen zu marktfähigen Produkten weiterentwickeln konnte. Frank suchte Leute, die bei seinem Abenteuer dabei sein, Investoren, die in ein paar Jahren mit seiner Erfindung sattes Geld verdienen wollten. Noch knapp eine Woche, dann würde er zusammen mit Billy am Weltkongress der Society for Neuroscience alle begeistern.

In seinem Büro erwartete ihn auf dem Arbeitstisch eine halbvolle Aluschale mit gebratenem Reis und Huhn, die Reste eines eiligen Mittagessens. Frank schob die Schale zur Seite, weckte den Computer aus dem Ruhezustand und arbeitete, bis ihm die Zahlen vor den Augen verschwammen.

Er verließ das Institut und ging durch den verglasten Verbindungstrakt zum Hauptgebäude hinüber. Im Korridor war es schummrig, die Beleuchtung hatte auf Energiespar-Modus umgestellt. Vorn in der Haupthalle standen die abgewetzten Sessel wie immer um diese Uhrzeit unordentlich verteilt herum. In einem davon saß ein Student – Laptop auf den Knien, Kopf vornüber geneigt – und schlief. Eine Putzfrau schob einen breiten Wischer durch die Halle. Frank war in Gedanken bei Billy.

Plötzlich stand sie vor ihm.

Das heißt, zuerst sah Frank nur ein Paar klobiger Schuhe. Dann tiefrote Haare. Und schließlich das dunkelgrünste Augenpaar, das ihm je begegnet war. Hängen blieb sein Blick jedoch oberhalb des linken Auges, wo sich ein silberner Ring durch die fein geschwungene Braue bohrte.

»Titanstahl.«

Frank schrak auf.

»Titanstahl«, wiederholte die Frau, bevor Frank etwas hatte sagen können. »Die meisten meinen, das Piercing sei aus Silber. Aber es ist Titan. Das ist viel härter.«

»Ach so.«

»Ich habe Ihnen mehrere Mails geschrieben«, sagte die Frau. »Und keine Antwort erhalten.«

Frank warf einen unwilligen Blick auf seine Armbanduhr. »Na, ja«, sagte er und überlegte, ob er sie kannte, diese Frau mit Stahlring im Gesicht, die sich ihm in einem reichlich sonderbaren Aufzug kurz vor Mitternacht in den Weg stellte. Aus den riesigen Schuhen ragten stämmige Beine, die mit groben, roten Strümpfen bekleidet waren. Darüber trug sie einen orangefarbenen Minirock und eine grasgrüne Daunenjacke mit Kapuze. Frank entschied, dass er die Frau nicht kannte.

»Das kann vorkommen«, sagte er und meinte die unbeantworteten Mails.

»Ich möchte meine Masterarbeit bei Ihnen machen«, sagte die Frau.

»Aha«, sagte Frank.

»Ich war bei Ihnen in den Vorlesungen«, sagte sie.

»Aha«, wiederholte Frank. »Dann sprechen Sie mich doch nächstes Mal dort an. Gute Nacht.« Auf dem Weg zum Ausgang war sich Professor Frank Stern sicher, dass er diese Frau niemals wiedersehen würde – weder in einer Vorlesung noch sonst wo.

4

Das Große Auditorium der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore war bis auf den letzten Platz besetzt. Frank Stern gähnte im Halbdunkel einer der hintersten Sitzreihen, während vorn ein japanischer Kollege seine Forschungsresultate vorstellte.

Frank war seit dem frühen Morgen auf den Beinen, eilte von Vortrag zu Vortrag – seine Augen brannten, der Schädel brummte. Trotzdem konnte der Hirnforscher nicht genug bekommen von dem, was hier beim Weltkongress der Neurologie geboten wurde, und er dachte nicht daran, dem unbändigen Verlangen seines Körpers nachzugeben und den Jetlag im Hotel auszuschlafen. Es war zu interessant, zu aufregend. Die Forschergemeinschaft war kollektiv in fiebrigem Eifer, weil alle spürten, dass eine neue Ära anbrach. In der Genetik war die Goldgräberstimmung vorbei, die Erbsubstanz des Menschen war entschlüsselt, erste medizinische Anwendungen in Form von Gentherapien entwickelt, doch alles ging viel langsamer voran, als man sich dies ursprünglich erhofft hatte. Jetzt lockte das nächste Abenteuer. Das wohl größte Geheimnis des Menschen wollte gelüftet werden: die Funktionsweise des Gehirns. Wie verarbeiten die etwa 23 Milliarden Nervenzellen die Unmengen von Wahrnehmungen, die ihnen jede Sekunde von den Sinnesorganen des Körpers übermittelt werden? Wie filtert, wie speichert und wie löscht das Gehirn Informationen? Und wie konstruiert diese Anhäufung von Neuronen aus all den Nervensignalen etwas, das ein jeder als Realität wahrnimmt? Etwas, das man als Bewusstsein empfindet? Etwas, das man als Ich erkennt?

Einiges von dem, was die Forscher hier am Weltkongress präsentierten, war hochphilosophisch, vieles steckte bezüglich einer praktischen Anwendung noch in den Kinderschuhen, doch alle wussten, die Zukunft der biomedizinischen Forschung wie auch der Industrie lag im Gehirn. Der Japaner am Rednerpult zeigte gerade die Zukunftsprognosen für Demenzerkrankungen auf. Düster, dachte Frank. Weltweit würden in den nächsten Jahren Millionen Menschen an Alzheimer oder ähnlichen Krankheiten leiden – eine gewaltige Herausforderung für die Betreuung dieser Patienten und ein riesiges Geschäft für den, der eine Therapie dagegen entwickelte.

Frank warf einen Blick auf die große Uhr an der seitlichen Wand des Auditoriums: höchste Zeit, sich zum Vorbereitungsraum zu begeben.

Als er kurz darauf vom Moderator als nächster Redner angekündigt wurde, verflog seine Müdigkeit mit einem Schlag. Ruhig trat Professor Frank Stern ans Rednerpult. »Sehr geehrte Damen und Herren«, begann er. »Was ich Ihnen hier zeigen werde, haben Sie noch nie gesehen.«

Das war ziemlich dreist. Denn die »sehr geehrten Damen und Herren« waren allesamt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Rang und Namen und hatten in ihrem Forscherleben schon einiges gesehen. Doch Frank war entschlossen, den Saal wachzurütteln, die Leute für sich zu gewinnen. Er rief das Video mit Billy auf. Es zeigte den Makaken im Primatenstuhl, die optischen Reize auf dem Monitor, die Tastatur mit den Symbolen. Das Publikum sah die Elektrodenkapsel auf dem Schädel des Affen und die Drähte, die zu einem Rechner führten. Es sah den Roboterarm, der die richtige Taste drückte und dann dem Affen eine Erdnuss in den Mund schob. Und es hörte Franks Erläuterungen: »Der Affe bedient eine Maschine, ohne einen Finger zu rühren, einzig mit der Kraft seiner Gedanken.« Ein Raunen ging durch den Saal. Frank fuhr fort: »Das Tier steuert den Roboterarm, indem es an die entsprechende Bewegung denkt. Die Elektroden in seinem Gehirn fangen die elektrischen Impulse auf und leiten sie über die Drähte zum Computer. Dieser filtert sie, verstärkt sie und wandelt sie in Steuersignale für den Roboter um. Damit haben wir es geschafft, Elektronik und Nervensystem miteinander zu verbinden.«

Jemand rechts hinten im Saal applaudierte. Frank beeilte sich, fortzufahren, klickte sich durch seinen Vortrag, zeigte Tabellen, Grafiken und Schemata, erklärte die Technologie und skizzierte die möglichen Anwendungen. Dann zeigte er das nötige Investitionsvolumen, um aus dem Konzept anwendbare Prothesen für Menschen zu entwickeln. Er erläuterte den Businessplan für ein entsprechendes Start-up-Unternehmen und kam zum Schluss: »Eigentlich ist das ganz einfach«, untertrieb er mit einem siegessicheren Lächeln, während er die letzte Folie aufrief. »Computer funktionieren mit Strom, genauso wie Nerven. Man muss nur wissen, welche Stecker aufeinanderpassen. Wie Sie gesehen haben, meine Damen und Herren, wissen wir es. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.«

Applaus brandete auf. Bravorufe. Frank strahlte, bedankte sich, deutete eine höfliche Verbeugung an.

»Ich bin beeindruckt!«, rief ein Zuschauer mit italienischem Akzent und unverhohlener Ironie, als der Applaus nachließ. »Doch eine Frage hätte ich noch.«

»Bitte«, sagte Frank.

Der Mann erhob sich. »Sie sagten, Sie würden Gelähmte wieder gehend machen. Ihr Affe kommt mir aber eher vor wie ein Amputierter. Wie wir wissen, sind bei den meisten Paraplegie-Patienten nur die Nerven durchtrennt, die Muskulatur ist noch funktionsfähig. Wollen Sie diesen Menschen einen gelähmten Arm abtrennen und einen Roboterarm verpassen?«

Natürlich war die Frage perfide, doch Frank hatte sie erwartet, hatte geradezu darauf gehofft. Er rief ein Video auf, das er aufgespart hatte – als Nachtisch sozusagen. Zu sehen war eine Ratte auf einem Laufband. Auch sie trug auf dem Kopf eine Elektrodenkapsel, von dort führten Kabel zu einem Rechner und wieder zurück zu einem der Hinterläufe des Nagers.

»Dieser Ratte haben wir mit einem kleinen Schnitt im Rückenmark eine Art Querschnittlähmung zugefügt«, erklärte Frank. »Mit Elektroden nehmen wir in ihrem Gehirn die Befehle für die Beinbewegung ab, verstärken die Impulse in einem Rechner, der sie ans Bein sendet. So umfahren die Nervenimpulse die defekte Stelle im Rückenmark.«

Wieder Applaus im Saal.