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Helen Liebendörfer

Thomilin und sein Weib

Thomas Platter und seine Frau Anna

Historischer Roman

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Titelbild: Albrecht Altdorfer, Porträt einer jungen Frau, 1522

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Lektorat: Claudia Leuppi

Cover und Layout: Franziska Scheibler

eISBN 978-3-7245-2384-0

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2359-8

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrage für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

www.reinhardt.ch

Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung der Fotos. In einzelnen Fällen konnten die Rechteinhaber nicht ermittelt werden. Wir bitten um Hinweise an den Verlag, allfällige Honoraransprüche werden gerne abgegolten.

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«Fortune, Infortune Fort Une»
(Glück und Unglück machen eine Frau stark)

Marguerite d’Autriche (1480–1530)

Inhalt

VORWORT

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

NACHTRAG

BIOGRAFIE

BIBLIOGRAFIE

BILDNACHWEIS

AUTORIN

VORWORT

Thomas Platter (1499–1582) und seine beeindruckende Karriere, welche vom Walliser Hirtenknaben bis zum Rektor des Gymnasiums in Basel führte, seine bettelarmen Jugendjahre, sein Emporarbeiten, seine Ausdauer und Zähigkeit sind immer wieder lesenswert. Von seiner Autobiografie aus dem Jahr 1572 liegen in der Universitätsbibliothek Basel nicht nur elf Handschriften, sie wurde auch unzählige Male gedruckt und in vielen Aufsätzen und Arbeiten kommentiert.

Weniger zur Kenntnis genommen wurden bei allen Kommentaren und Aufsätzen das Durchhaltevermögen und die Anpassungsfähigkeit seiner Frau Anna Dietschi, obwohl sie nicht weniger als dreiundvierzig Jahre lang das wechselvolle Leben mit Thomas Platter teilte. Anna trug den Aufstieg ihres Mannes vom einfachen Hilfslehrer bis zum Rektor und Gutsbesitzer mit und machte ihn mit ihrem Fleiss erst möglich. Ihr wirtschaftliches Geschick und ihre Sparsamkeit trugen dazu bei, den laufend wachsenden Schuldenberg zu bewältigen. Thomas Platter war sich durchaus bewusst, wie viel Anna zum steten Vorwärtskommen beitrug, stellt er doch am Schluss seiner Autobiografie fest, dass er vier Häuser besitze … durch meine Arbeit und durch die grosse Arbeit meiner Frau.

Das Lebensbild von Anna und Thomas Platter zeigt, dass im 16. Jahrhundert die Frau im Eheleben die zweite, aber keinesfalls eine zweitrangige Rolle spielte. Ohne die Arbeit der Frau hätten die einzelnen Haushalte nicht bestehen können, doch wurde erwartet, dass sich eine Frau gegenüber ihrem Ehemann gehorsam, geduldig und bescheiden verhalte. Zum Alltag gehörten die harte Arbeit, die grosse Kälte im Winter, der man nur beschränkt durch angemessene Kleidung begegnen konnte, die schlechten hygienischen Verhältnisse sowie die Krankheiten und Epidemien, denen man hilflos ausgeliefert war. Auch wenn die Lebensumstände verschieden waren: Liebe, Trauer, Stolz, Eifersucht und Ehrgeiz und ein bewundernswerter Durchhaltewille bewegten die Menschen damals genauso wie heute, sowie die stete Hoffnung, den Kindern einmal ein besseres Leben ermöglichen zu können.

In diesem Roman wurde Authentisches und Fiktives verbunden, basierend auf Platters Biografie, den Berichten des Sohnes Felix und weiteren Quellen, wobei die Lebensstationen, Ereignisse und Personen möglichst genau berücksichtigt sind.

Helen Liebendörfer

1. KAPITEL

Thomas Platter wartete aufgeregt darauf, bis endlich der schwere Riegel geschoben und die wuchtigen Torflügel des Stadttors sich öffnen würden. Seine spindeldürre Gestalt war nur mit einem Hemd und einem dünnen Jäckchen bekleidet und die zerrissenen Strümpfe steckten in keinen Schuhen. Ungeduldig trat er von einem Bein auf das andere. Er war überzeugt, dass der Bettelstudent Paulus ihn bald vermissen und suchen würde.

Seit Thomas zehn Jahre alt war, hatte er mit seinem Vetter Paulus durch halb Europa ziehen und betteln müssen. Doch Paulus hatte ihn stets nur ausgenützt und grob behandelt, selbst jetzt noch, obwohl Thomas nun schon siebzehn Jahre zählte.

«Thomilin, wenn du mir wegläufst, werde ich dir nachziehen und dir alle viere abschlagen», hatte ihm Paulus vor einigen Tagen gedroht, denn er hatte den wachsenden Widerstand seines ABC-Schützen, wie die Helfer der Bettelstudenten genannt wurden, gespürt.

«Hoffentlich kann ich die Stadt München verlassen, bevor Paulus bemerkt, dass ich fortgelaufen bin», dachte Thomas und blickte unruhig die Strasse entlang. Um Paulus hinzuhalten, hatte er ausrichten lassen, er wolle sein Hemd waschen gehen.

Endlich öffnete der Wächter das Tor und alle drängten hinaus. Thomas eilte über die Brücke des Flusses Isar, hastete einen dicht bewachsenen Pfad entlang, erklomm einen Hügel und blickte ausser Atem zurück. Niemand war zu sehen, kein Paulus, keine Bettelstudenten folgten ihm – es war geschafft!

Er sog fieberhaft die frische Morgenluft ein und warf einen wehmütigen Blick auf die Silhouette der Stadt mit den Türmen der Liebfrauenkirche und der Peterskirche, welche sich im Licht des frühen Tages in eindrücklicher Schönheit darbot. Ein kühler Morgenwind zerzauste seine dunkelblonden Lockenhaare. Tränen liefen über seine Wangen vor Erleichterung, jedoch auch, weil er wusste, dass er nun ganz auf sich alleine gestellt war, der Unbarmherzigkeit der Welt schutzlos preisgegeben.

Thomas verspürte Hunger, ein Gefühl, das ihn begleitete, solange er denken konnte. Paulus hatte ihm stets alles weggenommen, was er zusammengebettelt hatte. Es gehörte sich so, dass die kleinen ABC-Schützen den grossen fahrenden Studenten alles unangetastet übergeben mussten, was ihnen eine gutmütige Seele geschenkt hatte. Nur die kaum mehr essbaren Stücke wurden ihnen überlassen, das Brot, wenn es hart und grau war, die Früchte, wenn sie schon fast verfault waren. Oft war Thomas nichts anderes übrig geblieben, als den Hunden die Knochen abzujagen und an diesen zu nagen.

Die Angst vor den vielen Schlägen sass ihm noch im Nacken. Erst kürzlich hatte er entsetzt miterleben müssen, wie Paulus und ein anderer Bettelstudent seinem Kollegen Hildebrand ein Kissen ins Gesicht gedrückt und ihn furchtbar verprügelt hatten, weil er heimlich etwas von den erbettelten Dingen gegessen hatte. Der Anblick von Hildebrand, wie er mit blauem Gesicht nach Luft schnappte und kaum mehr gehen konnte, hatte bei Thomas den Entschluss reifen lassen, dem unerträglichen Zustand ein Ende zu setzen. Er hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt fortzulaufen, aber bei der Vorstellung, vollkommen alleine durch Europa ziehen zu müssen, ohne Kameraden und ohne Paulus, war ihm stets der Mut gesunken. Er hatte sich deswegen selbst verachtet. Paulus hielt ihn sowieso für einen Schwächling, weil er klein gewachsen war für sein Alter, und hatte es ihn auch spüren lassen. Mit dem heutigen Tag wurde er nun eines Bessern belehrt.

Thomas sass zusammengekauert da, ein würgendes Angstgefühl beherrschte seinen Körper. Er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Sein ganzer Mut war aufgebraucht, nachdem er die Trennung von Paulus vollzogen hatte. Er atmete tief durch und stand zögernd auf. Der einzig sinnvolle Weg würde in die Schweiz führen, heim ins Wallis. Aber da suchte Paulus ihn bestimmt. Er musste eine andere Richtung einschlagen, aber welche?

Seit sein Vater gestorben war, wurde er herumgereicht. Die Mutter hatte wieder geheiratet und war froh, ihn irgendwo unterbringen zu können. Sein Verwandter, der Bettelstudent Paulus Summermatter, hatte ihn einst mitgenommen mit dem Versprechen, ihm Lesen und Schreiben beizubringen. Damals war Thomas etwa zehn Jahre alt gewesen. Er hatte bei einem Priester gewohnt, doch statt ihn etwas zu lehren, hatte dieser ihn schrecklich misshandelt, ihn so lange an den Ohren hochgezogen, bis die Nachbarn durch die Schreie angerannt kamen und der rohen Behandlung ein Ende setzten. Thomas hatte Gott auf den Knien gedankt, als Paulus ihn dort abholen kam.

Besser war sein Leben dadurch aber nicht geworden.

In all den Jahren als Schütze des Bettelstudenten Paulus hatte er weder Lesen noch Schreiben gelernt, aber dafür jede Art von Tricks und Möglichkeiten, den Leuten Geld abzubetteln oder Gemüse, Obst, Hühner und Gänse zu stehlen.

«Thomilin, geh betteln, dir geben sie am meisten, weil du so klein bist», hiess es in jeder Stadt. Als Paulus merkte, wie geschickt Thomas im Steinwerfen war und jedes Tier gezielt treffen konnte, wurde er auch dazu verknurrt, Gänse zu stehlen. Wie oft hatte er dabei vor bellenden oder beissenden Hunden Reissaus nehmen müssen! Thomas raufte sich die Haare bei diesen Erinnerungen.

Da näherte sich polternd ein Wagen, gezogen von zwei kräftigen Ochsen. Ein Bauer sass auf dem Bock. Er schien schon frühmorgens betrunken zu sein und hiess Thomas grölend aufsitzen.

«Wohin fahrt Ihr denn?», fragte Thomas, unschlüssig, ob er das Angebot annehmen solle.

«Richtung Salzburg.» Thomas war jeder Weg recht, der von München und seinem Vetter Paulus wegführte, und so schwang er sich dankbar auf den Wagen. Der Bauer sang weiterhin lauthals seine falschen Töne, doch Thomas schien es wie die schönste Musik, je weiter ihn der Wagen von München fortführte. Jeder Stoss durch die steinige, holprige Strasse fühlte sich an wie ein wunderbares Zeichen, dass er tatsächlich fortkam von seinem Peiniger. Als ihn der Bauer nach einigen Dörfern wieder absetzte, fragte Thomas nach dem Weg nach Passau. Da würde ihn Paulus bestimmt nicht suchen. Die Städte waren ihm alle vertraut, wanderte er doch schon viele Jahre von der einen zur andern.

Nach drei Tagen lag endlich Passau vor ihm, gerade rechtzeitig vor dem Dunkelwerden. Es war nicht schwer, das Stadttor zu finden. Die mächtigen Rundtürme der Stadtmauer boten einen beeindruckenden Anblick. Im Stadtgraben quakten einige Frösche. Der Wächter war gerade dabei, die mächtigen Torflügel zu schliessen.

«Nichts da, Ihr kommt mir nicht in die Stadt hinein!», brüllte er und musterte Thomas abschätzig. «Ihr seid ein Bettler und ein Lump, solche Leute brauchen wir hier nicht.» Thomas wiederfuhr eine solche Behandlung nicht zum ersten Mal, deshalb widersprach er nicht, sondern fragte nur, welchen Weg er nach der Schweiz nehmen müsse?

«Über München.»

«Da komme ich gerade her. Gibt es keinen andern Weg?» Der Torwächter betrachtete ihn misstrauisch und wunderte sich über das schmächtige Bürschchen, das ganz alleine daherkam.

«Nun, so nehmt die Strasse über Freising, Augsburg und Ulm. Doch in die Stadt Passau kommt Ihr nicht hinein.» Thomas nickte ergeben und wandte sich ab.

An einem kleinen Bach wusch er sich Gesicht und Arme, trank viel Wasser, um den hungrigen Magen zu füllen, und wischte sich mit dem Ärmel den Mund trocken. Dann schaute er sich nach einem Nachtlager um. Dicht am Weg stand eine Eiche mit einem starken Stamm und ungeheurem Blätterdach. Doch dann entdeckte er neben einem Buchenwäldchen einen kleinen, leeren Schuppen, in den er sich verkriechen konnte. Wenigstens schützten ihn die Holzwände etwas vor dem kalten Wind.

Die rätselhaften Nachtgeräusche liessen ihn lange nicht einschlafen. Die Umgebung schien voller Leben. Es raschelte manchmal unheimlich im Laub, dann schrie plötzlich ein Käuzchen ganz in der Nähe oder es knackte ein Ast. Was, wenn Paulus plötzlich daherkäme? Ängstlich lauschte Thomas in die Dunkelheit. Er konnte sich nicht erinnern, eine Nacht vollkommen alleine verbracht zu haben. Doch er war so müde, dass er trotz der angstvollen Gedanken schliesslich einschlief.

Als am folgenden Morgen der Himmel graute, erhob er sich rasch und klopfte den Staub aus seinem Hemd. All die schweren Gedanken kehrten wieder zurück, die Angst und Unsicherheit, nun alleine auf sich gestellt einen Weg suchen zu müssen. Hatte er einen Fehler gemacht, Paulus zu verlassen? Er war ganz durchfroren, fühlte sich schwach, steif und etwas schwindlig. Wie viel bequemer wäre es, bei Paulus und den andern Bettelstudenten unterzukriechen. Doch dann dachte er an die Schläge und raffte sich auf. Jenseits der Hütte sah er eine kleine Kapelle stehen. Wann hatte er zum letzten Mal gebetet? Es konnte nicht schaden, es wieder einmal zu versuchen und um Hilfe und Beistand zu bitten.

Von innerer Unruhe getrieben und immer noch hungrig, wanderte er danach gegen Westen, Richtung Freising, wie er hoffte, und suchte verzweifelt auf den Feldern nach etwas Essbarem. Viel Ackerland lag vor ihm, das Korn spross jedoch erst zaghaft, Gemüse war noch keines angepflanzt worden, nur Unkraut und ein paar zu einem Haufen zusammengeworfene Feldsteine waren zu sehen. Es roch nach feuchter Erde. Er hob ein hübsches, leeres Schneckenhaus auf und warf es wieder zurück auf die kalten Steine. Vielleicht fand er im Wald einige frisch keimende Eicheln. Er bekam davon stets Bauchschmerzen, trotzdem ass er welche, denn der Hunger war zu gross.

Thomas marschierte an einer Gruppe von Pilgern vorbei, die teilweise humpelnd dem Gnadenbild der schwarzen Mutter Gottes von Altötting zustrebten. Es war ein bestechender Gedanke, dass Maria helfen und ihm ein Leben ohne Hunger und Angst bescheren könnte. Doch Thomas hatte bis anhin die Erfahrung gemacht, dass solche Wünsche und Gebete nicht in Erfüllung gingen – nicht für ihn. Nirgends war Hilfe zu erwarten, er hatte zäh und unverdrossen seinen Weg selbst zu gehen und sich nicht unterkriegen zu lassen, auch wenn sich alles gegen ihn verschworen hatte. Es würde auch jetzt weitergehen, so wie immer.

Lange wanderte er in der gleichen Himmelsrichtung und erreichte schliesslich müde und ermattet nach ein paar Tagen Freising. Doch gleich in der ersten Gasse traf er einen Kollegen, welcher ihm zuflüsterte:

«Dein Paulus ist hier und sucht dich. Mach, dass du wegkommst.» Thomas erschrak. Paulus war ihm auf den Fersen! Er lief davon, als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Unvorstellbar, mit welchen Schlägen er rechnen müsste, wenn Paulus ihn erwischte. Die Bettelstudenten waren stets ängstlich darauf bedacht, ihre Schützen nicht zu verlieren, denn ihr gutes Leben fand sonst ein Ende.

«Ich bin doch kein Verbrecher, der fliehen muss», murmelte Thomas schliesslich trotzig und begann, langsamer zu gehen, «Paulus pflegt immer mehrere Tage an einem Ort zu verweilen, er wird mir nicht so rasch folgen», versuchte er sich Mut zu machen. In einigen Tagen müsste er Ulm erreichen können. Dort hatte er einmal bei einer sehr netten Sattlerin gewohnt. Sie hatte ihm die eiskalten Füsse mit einem Stück Pelz umwickelt und ihm eine Schüssel voll Haferbrei gereicht. Daran erinnerte er sich oft und gern. Er hoffte, dass sie noch lebte und er wieder bei ihr unterschlüpfen konnte.

Als er Ulm schliesslich erreichte, stellte er zuerst einmal fest, dass am Münster immer noch gebaut wurde. Die Dimensionen beeindruckten ihn sehr. Ob der geplante hohe Turm wirklich vollendet werden konnte? Immerhin reichte er schon recht hoch hinauf. Thomas legte den Kopf in den Nacken und betrachtete staunend die grossartige Arbeit der Steinmetze. Nebenan wurde gehämmert und geklopft, zudem priesen zwei Händler auf dem Platz schreiend irgendwelche Waren an, einer lauter als der andere. Ein Hund kläffte dazu. Thomas näherte sich in der Hoffnung, etwas Essbares ergattern zu können. Der eine war ein Gemüsehändler. Thomas lief beim Anblick der Ware das Wasser im Mund zusammen. Demütig bittend fragte er nach einer milden Gabe. Der Händler beachtete ihn kaum und schob ihm wortlos einen schrumpeligen Apfel zu. Thomas dankte und biss sofort hinein. Was für ein neues Gefühl, gleich essen zu können, was er erbettelt hatte!

«Ich muss rasch weiter, Paulus kann jeden Tag hier eintreffen», sprach er laut vor sich hin und lief durch die Gassen. Er fand die Sattlerin, die ihm auch diesmal wieder einen Brei vorsetzte. Seine erste warme Mahlzeit seit Tagen. Er schlang ihn hinunter, schlief in dieser Nacht tief und fest und machte sich am Morgen frisch gestärkt auf den Weg Richtung Konstanz.

Der Bodensee erschien weit vor ihm ausgebreitet, als Thomas das flache Ufer erreichte. Ein milchig schimmernder Dunst lag über dem Wasser. Ein paar Enten bevölkerten das Ufer, irgendwo schrie eine Möwe. Thomas blieb einen Moment aufatmend stehen. Am Ufer gegenüber erstreckte sich die Schweiz, ihr galt sein Sinnen und Streben, seit er Paulus verlassen hatte.

Die behaglichen Häuser in den Gassen von Konstanz lockten zum Verweilen. Einen Moment lang war er unschlüssig, ob er hier Station machen sollte. Eine Nacht wollte er hier verweilen. Er drückte sich durch die Menge der Menschen und hoffte, dass ihn niemand bemerkte. Er schämte sich in seinem zerrissenen Hemd und den schmutzigen Strümpfen, die er nicht waschen konnte, weil es seine einzigen waren. Doch die Leute waren es gewohnt, fahrendes Volk und armselige Gesellen in den Strassen zu sehen, oder verarmte Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela. In einer Pilgerherberge fand er Unterschlupf. Man beachtete ihn kaum. Darüber war er froh, denn Paulus durfte auf keinen Fall erfahren, dass er hier durchgekommen war.

Als er am folgenden Morgen zusammen mit ein paar Jakobspilgern die hölzerne Brücke nach Kreuzlingen überquerte und die ersten Schweizer Bauernhäuser erblickte, war er erleichtert und glücklich. Die Hügelketten und Bergspitzen versteckten sich zwar in den Wolken, aber er sah die Dächer von kleinen Dörfern und wusste, nun war er in der Schweiz angekommen. Es schien ihm gesegneter Boden zu sein, und es war ihm fast feierlich zumute, als er weiter wanderte. Nun war er seinem Ziel schon viel näher. Er ergötzte sich am üppigen Grün der vielen Weiden, hin und wieder dunklem Tannengehölz oder Laubwäldern und an sauberen Höfen mit hölzernen Tränken und stattlichem Vieh. Hier konnte er damit rechnen, verköstigt zu werden, zumal er mit den Pilgern auf dem Jakobsweg wanderte. Deren Ziel war zunächst Einsiedeln, Thomas hingegen wollte am Zürichsee den Weg zur Stadt nehmen.

Zum ersten Mal, seit er sich von Paulus getrennt hatte, konnte Thomas seine Wanderung wieder geniessen. Er sah die Wälder und Felder fast in verklärtem Licht, das Schauen war ihm in den trüben Zeiten abhandengekommen. Doch jetzt, mit einem klaren Ziel vor Augen, staunte er über das satte Grün und die bunten Blumen, er hörte die Vögel zwitschern und das Rauschen des Windes in den Tannen. Von einer Hügelkuppe aus sah er über eine endlose Flucht von Feldern und Wäldern, die letzten Bergrücken verschmolzen im bläulichen Dunst, und hin und wieder schmiegte sich ein Bauerndorf in die Mulde eines Tals. Von der Stadt Zürich war nichts zu sehen, trotzdem hoffte er, bald einmal dort einzutreffen und jemanden zu finden, der ihn unterrichten konnte. Ohne Lesen und Schreiben gelernt zu haben, wollte er nicht in sein Heimatdorf zurückkehren.

Sinnend blieb er einen Moment stehen und betrachtete ein paar grasende Ziegen. Wie lange war es her, seit er Ziegen gehütet hatte! Er war damals kaum sieben Jahre alt gewesen und die vielen Ziegen waren grösser und stärker als er. Er war schon immer von schmächtiger Gestalt gewesen.

«Wollt Ihr eine kaufen?», fragte eine heisere Stimme neben ihm und ein kleingewachsener Bauer mit einem faltenreichen Gesicht und listigen Augen musterte ihn kritisch.

«Nein, nein. Ich dachte nur gerade an früher, als ich achtzig Ziegen hüten musste. Sie stiessen mich achtlos zur Seite, sobald ich die Stalltür öffnete, und wenn ich nicht rasch genug auf die Seite sprang, rannten sie über mich hinweg, traten mir auf den Kopf und den Rücken. Die Schmerzen vergesse ich nie!» Der Bauer nickte bedächtig.

«Ja, ja, Ziegen wissen genau, dass der Mensch hinten keine Augen hat.»

«Ich war keine sieben Jahre alt damals und die Tiere meist grösser als ich. Doch ich hatte wenigstens im Hirtenkörbchen etwas Brot und Käse», murmelte Thomas leise vor sich hin, «seither habe ich immer nur gehungert.» Der Bauer betrachtete ihn argwöhnisch von der Seite.

«Ihr scheint nichts Rechtes gelernt zu haben. Wer arbeiten will, der hat immer etwas zu essen.» Thomas schüttelte den Kopf.

«Manchmal will es das Schicksal anders. Ich habe jahrelang mit einem Bettelstudenten durch Europa ziehen müssen. Aber nun will ich etwas ändern.» Innerlich zog es ihn ins Wallis in die Berge. Laut aber sagte er: «Ich will nicht heim, bevor ich nicht lesen und schreiben kann. Sie würden im Wallis nicht verstehen, dass ich nach sieben Jahren nichts gelernt habe.» Der Bauer schwieg, doch dann zog er aus seiner Tasche ein Stück Brot.

«Hier, damit Euer Entschluss nicht gleich wieder ins Wanken gerät.» Thomas schaute ihn dankbar an. Die Schweiz meinte es gut mit ihm.

Nach ein paar Tagen kam er durch Wiesen und kleine Wäldchen gegen den weiten Zürichsee herabgeschritten. Er entdeckte einige Fischer am Seeufer, dazu ein paar Boote. Ein Bussard pfiff hoch in der Luft. Thomas blickte zu ihm hoch und deutete es als gutes Zeichen. Er verabschiedete sich von der Pilgergruppe und wanderte nun dem See entlang der Stadt entgegen.

Kaum hatte er die Stadt Zürich betreten und sich nach einer Übernachtungsmöglichkeit umgesehen, traf er ausgerechnet auf einen Walliser. Er war schmutzig und seine Kleider stanken. Trotzdem freute sich Thomas über die Begegnung, denn die vertraute Sprache wärmte ihm das Herz.

«Ich heisse Thomas Platter und komme auch aus dem Wallis, aus Grächen», rief er erfreut, «ich will hier Lesen und Schreiben lernen.»

«Und ich bin aus Visp und heisse Antonius Venetz. Man ruft mich Toni.»

«Und mich Thomilin».

Sie entdeckten eine schmutzige Bleibe in einem halb leeren Schopf und versuchten nun jemanden zu finden, der ihnen Unterricht geben würde. Vergeblich.

«Es sieht nicht so aus, als ob jemand gewillt wäre, uns zu lehren. Ohne Geld ist nichts zu erreichen.»

«Komm mit mir nach Strassburg, Thomilin. Dort lehrt man auch arme Schüler, hat mir heute jemand erzählt.» Der Gedanke, dass Paulus ihn eher in Zürich als in Strassburg suchen würde, liess Thomas den Vorschlag überdenken. Er beschloss, die Gelegenheit beim Schopf zu packen.

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Thomas gefiel der struppige Flegel Toni, obwohl er das schrille Gelächter nicht schätzte, mit dem er jeweils seine Erzählungen schmückte. Doch auf jeden Fall war man zu zweit stärker und hatte weniger zu befürchten auf der Reise. Es gab viel zu erzählen, manchmal liefen sie auch nur schweigend nebeneinander her, jeder in seine Gedanken versunken.

«Daheim erwarten alle, dass ich Priester werde», nahm Thomas das Gespräch wieder auf. Antonius schaute überrascht hoch und kicherte.

«Ausgerechnet Priester! Wie kommt man denn darauf?»

«Weil bei meiner Geburt gerade die Glocken zur Messe läuteten. Alle sagten, das sei ein Zeichen.»

«Ein Zeichen? Damit ist es nicht gemacht. Ohne das Lesen und Schreiben zu beherrschen, wirst du kaum Priester werden können», spottete der Kamerad und Thomas stimmte in sein Lachen mit ein.

Nach einigen Tagen erreichten sie bei anbrechender Dunkelheit Strassburg und schritten durch das Tor in die wohlhabende, schön gebaute Stadt. Erwartungsvoll fragten sie sich durch, merkten aber bald, dass die Gassen voll von armen Schülern waren. Die Schule sei nicht zu empfehlen, wurde ihnen berichtet. Ausserdem habe es so viele Anwärter, dass man nur solche aufnehme, die bezahlen könnten. Man riet, sie sollten nach Schlettstadt ziehen, dort gebe es seit Kurzem eine Schule für arme Leute. Toni hockte sich verzweifelt auf den Boden.

«Ach Thomilin. All meine Hoffnung habe ich auf Strassburg gesetzt, und jetzt das!» Doch Thomas war durch die vielen Wechsel in seinem Vagabundenleben abgehärtet.

«Wir lassen uns nicht unterkriegen, Toni», meinte Thomas aufmunternd, «Schlettstadt liegt in der Nähe und die Lateinschule ist berühmt. Wenn wir dort unterschlüpfen könnten, wäre es ein Erfolg. Wir werden uns bestimmt beide ernähren können. Ich habe in den vergangenen sieben Jahren nichts anderes getan, als zu betteln und etwas zu ergattern.»

«Zu stehlen meinst du wohl. Und du sollst Priester werden!» Thomas ging nicht darauf ein.

Während sie zusammen staunend vor der Fassade des Strassburger Münsters standen und über den Reichtum der steinernen Verzierungen staunten, plagte sie immer noch die Ungewissheit, wie es weitergehen sollte. Thomas wusste, dass er erst nach Hause gehen wollte, wenn er sein Ziel erreicht hatte, dieser Gedanke beflügelte ihn.

«Los, komm! Man hat mir gesagt, der Fluss Ill fliesse durchs ganze Elsass und wir bräuchten ihm nur zu folgen und gelangten bald nach Schlettstadt.»

Sie kamen gut voran, es war ein abwechslungsreiches Gehen. In der Rheinebene wehte ein lauer Wind. Einige silberne Weiden und straff stehende Erlen säumten die Ufer des kleinen Flusses Ill. Im Wasser spiegelte sich der blaue Himmel, Mücken tanzten in der Sonne, einige Störche stolzierten auf den Wiesen umher. Der mattgoldene Herbst hatte noch nicht Einzug gehalten, doch die Vögel begannen sich bereits zusammenzuscharen. Die Obstbäume hingen voller Früchte und boten willkommene Nahrung.

Lange Schatten fielen über die Wiesen, als sie am folgenden Tag das Stadttor von Schlettstadt erreichten. Zwei grosse Kirchen dominierten das Stadtbild. Vor allem die alte Kirche Sainte-Foy mit den Gebeinen der Heiligen Fides beeindruckte Thomas, während Antonius die leuchtenden Fenster der Kathedrale besonders beglückten. Nach einigem Suchen fanden sie ein altes Ehepaar, das um etwas Hilfe froh war, denn der Mann war blind. Es betraf alles Arbeiten, die von den beiden jungen, kräftigen Burschen leicht zu bewältigen waren, wie Wasser holen, Holz hacken und Feuer machen. Damit hatten sie eine Bleibe gefunden und konnten sich nun darum kümmern, zur Schule zu gehen. Mit grosser Neugier und Begeisterung begaben sie sich in ihre erste Schulstunde.

«Ach Toni, ich komme mir vor wie eine Henne unter lauter Küken», meinte Thomas nach dem ersten Tag, «alle andern Schüler sind viel jünger und kleiner als wir.»

«Ja, wir fallen auf. Ich war ebenfalls erstaunt, einen so jungen Lehrer vorzufinden, er scheint kaum viel älter als wir. Trotzdem bin ich zum ersten Mal zuversichtlich, dass noch etwas aus mir wird. Eigenes Geld verdienen, anständige Kleider tragen – das wäre mein Traum.»

«Es ist auch mein ehrlicher Wunsch und Wille, rasch vorwärtszukommen. Nur der regelmässige Schulunterricht macht mir etwas Mühe, ich habe verlernt, ein geregeltes Leben zu führen.»

Die Monate von Herbst bis Pfingsten blieb er in Schlettstadt, dann zog es Thomas in die Heimat zurück. Lesen und Schreiben beherrschte er nun sowie Anfänge in Latein. Er verabschiedete sich mit gemischten Gefühlen von Toni und dem alten Ehepaar. Er hatte länger nicht mehr an einem Ort wohnen können, es war ihm fast zu einer Art Heimat geworden.

«Mein Bettelstudent Paulus hat sich nirgends mehr blicken lassen, deshalb hoffe ich, nun unbehelligt ins Wallis zu gelangen.»

«Grüsse mir mein Wallis! Vielleicht treffen wir uns ja wieder einmal … »

Je näher Thomas den Alpen kam, desto mehr klopfte sein Herz. Das Hochsteigen auf den Bergpfaden bereitete ihm keine Mühe, denn er trug sogar eine Art Schuhe an den Füssen, Lederreste, die er mit Schnüren am Knöchel festgebunden hatte. Über seine dunkelblonde Lockenpracht hatte er einen braunen Hut gestülpt, der ihn vor den Sonnenstrahlen schützte. Überall sah er Kühe auf den Weiden. Ein Wärmeeinbruch hatte den Schnee bis auf ein paar wenige Flecken weggeschmolzen. Der Geruch der Matten und der Landwirtschaft weckten Erinnerungen an Tage, die längst versunken schienen. Thomas spürte, dass die lang vermissten Berge, Bäume und Wiesen ihm viel zu sagen hatten. Während er langsam nach Grächen emporstieg, fühlte er, wie ein Teil seiner Jugendzeit wieder erwachte. Wehmütige aber auch schmerzvolle Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Die sonderbaren Gefühle machten ihm das Atmen schwer. Bei jedem Schritt wurde er an seine Erlebnisse erinnert, an das Ziegen- und Kühe hüten, die Angst, nicht genügen zu können, die furchtbar kalten Wintertage, die vielen Schläge, die brutale Behandlung beim geistlichen Herrn, der ihm Lesen und Schreiben hätte beibringen sollen. Ihm fiel wieder ein, wie er einst in den Bergen beim Ziegenhüten abgestürzt und wie durch ein Wunder heil geblieben war. Doch es schien Thomas, als ob die Natur alle Übel der vergangenen Jahre zudecken und vergessen machen wollte. Die kühle Bergluft, die strahlend weissen Berggipfel und die Blumen und Gräser in den Wiesen wirkten auf ihn wie ein zärtlicher Gruss aus längst vergangener Zeit. Er sog den Geruch der Fichten ein und spürte gleichzeitig, wie die Erinnerung in ihm hochstiegen, an Kindertage, bei denen er sich trotz allem frei und leicht gefühlt hatte.

Der trockene Empfang seiner Mutter holte ihn in die Gegenwart zurück.

«Hat dich der Teufel wieder hergetragen, Thomilin?», fragte sie, wischte ihre Hände am Schurztuch ab und musterte ihn kritisch. Thomas schaute betroffen. Er hatte gehofft, sie würde sich freuen, ihn wiederzusehen, nun musste er merken, wie derb sie sein konnte. In ihrer Nähe empfand er fast ein wenig Scheu. Es war eine fremde Person für ihn.

«Nein, Mutter, meine Füsse. Aber ich werde Euch nicht lange lästig fallen.»

«Du bist mir nicht lästig, aber es verdriesst mich, dass du so schlampig daherkommst. Ich hatte mir mehr erhofft.»

«Ich weiss, Ihr wolltet, dass ich Priester werde.»

«Nein Thomilin, vielleicht die andern, aber ich nicht. Ich bin nicht gläubig genug, dass ich einen Priester als Sohn haben kann.»

«Vorläufig steht gar nicht zur Debatte, ob ich Priester werde oder nicht. Ich habe sieben Jahre lang für Paulus gebettelt und bin meist hungrig und schlotternd ins Heu gekrochen. Vor einem Jahr habe ich Paulus schliesslich verlassen, denn er hat mir nichts beigebracht. Es war auch sonst nicht einfach mit ihm», schloss er matt. Wozu der Mutter schildern, was er mitgemacht hatte? Es waren nichtssagende Dinge, wenn man von ihnen redete, aber sie waren schwer und drückend, wenn man sie erleben musste.

Sie betrachtete ihn schweigend, sah seine ausgemergelte Gestalt und dachte bei sich, dass er wohl recht getan hatte zu gehen. Wie alt war er jetzt? Sie begann zu rechnen.

«Ich meine, du bist jetzt achtzehn Jahre alt, und du kannst weder lesen noch schreiben?», fragte sie ungläubig.

«Ich habe es nachgeholt, als ich von Paulus wegging, und es hat mir eine ganz neue Welt erschlossen. Ich bin noch nicht so weit, etwas wirklich Wertvolles zu leisten, deshalb suche ich mir eine Bleibe in Zürich und werde weiter zur Schule gehen.»

Thomas verweilte nicht lange im Wallis. Zürich lockte ihn, um weiter zu studieren. Er hoffte, dass sich die Voraussetzungen geändert hätten. Seit seinem letzten Besuch war die Stadt von einer schrecklichen Pestepidemie heimgesucht worden, welcher über ein Viertel aller Einwohner zum Opfer gefallen waren. Die Epidemie war verklungen, und der berühmte Zwingli hatte unterdessen sein Amt als Pfarrer, als sogenannter Leutpriester im Grossmünster angetreten. Die Reformationsbestrebungen waren in vollem Gange.

Es brodelte in Zürich. Dank dem Buchdruck verbreiteten sich Luthers Schriften überall. Der Papst allerdings forderte dazu auf, sie zu verbrennen. Selbst die Leute auf der Strasse redeten über die Geschehnisse. Ketzerisch, papistisch, reformiert waren Begriffe, die ständig gebraucht wurden. Sie wirkten auf Thomas fast wie Beschwörungsformeln.

Er hatte Glück und fand nicht nur eine Unterkunft, sondern auch eine Verdienstmöglichkeit als Kustos (Helfer) des Schulmeisters Myconius1. Als Kustos hatte er aushilfsweise Schüler zu unterrichten, aber auch verschiedene andere Aufgaben zu erfüllen, wie zum Beispiel für das Heizen der Räume besorgt zu sein. Daneben ging er selbst bei Myconius zur Schule und studierte fleissig Latein und Griechisch, vor allem nachts. Mit der Hilfe eines Mitbewohners erhielt er sogar die Möglichkeit, Hebräisch zu lernen.

Nach einigen Wochen betrachtete ihn Myconius wohlwollend, aber etwas besorgt.

«Thomilin, überarbeite dich nicht. Dein verbissener Eifer macht dich sonst noch krank. Du lernst ja die halbe Nacht, das ist ungesund. Anni, unsere Magd hat es mir berichtet.»

«Ich denke, es ist nötig. Es braucht Männer, die die alten Sprachen verstehen, Zwingli ist auf Unterstützung dringend angewiesen.» Ein Kostgänger, der mit ihnen am Tisch sass, mischte sich ein:

«Richtig! Es braucht Leute, die die Schrift kennen. Das haben wir kürzlich während der Fastenzeit beim Buchdrucker Froschauer bemerkt. Wir haben ein Wurstessen abgehalten», berichtete er stolz, «es waren dünne Scheiben von gut gelagerten, scharfen Rauchwürsten. Stellt Euch das vor: Würste mitten in der Fastenzeit! Auch Zwingli war anwesend.» Thomas und Myconius kannten diese Geschichte längst, war sie doch in aller Munde. Der Redner war jedoch nicht zu bremsen. «Es gab danach einen harten Disput mit Priestern des Bischofs von Konstanz, der ja für Zürich verantwortlich ist. Und genau für solche Diskussionen brauchen wir belesene Männer.» Thomas nickte wohlwollend, und Myconius ergänzte:

«Vergangene Woche folgte ein weiterer Disput mit den Priestern und dem Grossen Rat. Zwingli erklärte, dass die Bibel das Mass der Dinge sei und verteidigte nicht nur das Übertreten des Fastengebots, weil es dort nirgends erwähnt werde, sondern sprach auch gleich noch über die Aufhebung des Zölibats. Und der Rat stellte sich hinter ihn – ich glaube, damit verhilft er der Reformation zum Durchbruch. Wir erleben grosse Tage!»

«Ihr meint, Zwingli konnte sich durchsetzen?»

«Ja, er überzeugte die Regierung, indem er die Bibel zitierte. Es war ein unbeschreibliches Hochgefühl.»

«Jetzt will er noch die Heiligenfiguren entfernen lassen», fügte der Kostgänger begeistert hinzu, «und auch keine Orgelmusik mehr in den Kirchen. Ausschliesslich die Worte der Heiligen Schrift sollen im Zentrum stehen. Aber es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis es alle schlucken.» Thomas dachte an seine Leute im Wallis und konnte sich nicht vorstellen, dass man dort solche Änderungen akzeptieren würde. Die Heiligenfiguren entfernen? Unmöglich. Sie waren allgegenwärtig. Aber vielleicht war es hier anders?

1Oswald Geisshüsler, von Erasmus einst scherzhaft Myconius genannt (Glatzkopf). Diesen Namen behielt er bei.

2. KAPITEL

Ein Dunstschleier hing über den Dächern und Kirchtürmen der Stadt Zürich und rückte die Berge in zarte Ferne. Die Luft roch nach dem Regen der vergangenen Nacht. Der Platz vor dem Fraumünster begann sich langsam zu beleben. Ein Karren rumpelte über das holprige Pflaster, so dass ein paar Hühner erschrocken zur Seite stoben. Die ersten Mägde liefen zum Brunnen, vorsichtig die zahlreichen Wasserlachen umgehend, die sich gebildet hatten.

Unter ihnen befand sich auch die Magd Anna Dietschi, welche sich stets früh auf den Weg machte, sobald der Morgen dämmerte. Seit sieben Jahren diente sie bei Schulmeister Myconius und seiner Frau. Anna war das Arbeiten von klein auf gewohnt, denn sie hatte früh ihre Eltern verloren und war in ihrem Leben nie verwöhnt worden. Von den Verwandten, bei denen sie untergekommen war, wurde sie gleich zum Schaffen angehalten. Auch jetzt verdiente sie mit harter Arbeit ihr Geld. Viel war es trotzdem nicht. Die Kleider nähte sie sich selbst und den Stoff dazu verfertigte sie ebenfalls mit ihren eigenen Händen. Aber sie hatte ein Dach über dem Kopf, etwas zu Essen und Meistersleute, die es gut mit ihr meinten.

Anna lief mit dem Wassereimer durch die Gasse. Sie war keine Schönheit, niemand blickte ihr nach. Mit der hellen Bluse und ihrem braunen, groben Rock, der mit einem sauberen Schurztuch geschützt wurde, sah sie aus wie jede andere Dienstmagd auch. Braune Haare umrahmten ihr ovales Gesicht. Der etwas breite Mund verzog sich selten zu einem Lachen, denn viel zu lachen gab es nicht. Ihre braunen Augen blickten an diesem Morgen mit einer Mischung aus Müdigkeit und Entschlossenheit umher. Anna hatte wieder einmal die halbe Nacht in der Stube verbracht und Flachs gesponnen. Am nächsten Feiertag wollte sie Garn verkaufen. Es wurde gut bezahlt, denn sie war eine ausgezeichnete Spinnerin.

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Zürich im 16. Jahrhundert: St. Peter (links), Münsterhof und Fraumünster (rechts)

Die andern Mägde spotteten oft über ihre wortkarge, zurückhaltende Art, auch an diesem Morgen.

«Lächle doch mal, Anni, sonst wirst du nie einen Mann bekommen. Wenn du die Männer nicht ein wenig umgarnst, bemerken sie dich nicht», rief die junge Rosa und tänzelte in ihren Holzschuhen um den achteckigen Brunnentrog herum. Anna betrachtete sie staunend. Sie hätte sich nie so bewegen können.

«Lass gut sein, Rosa. Bei Anni tauchen ja immer wieder Kostgänger auf, junge Männer, die von Schulmeister Myconius unterrichtet werden», versuchte die Magd Lisa zu vermitteln.

«Ach, das sind die Falschen! Lauter Studierte, die uns Mägde gar nicht wahrnehmen.» Anna nickte bestätigend.

«Das stimmt. Bis jetzt nahm mich keiner von ihnen zur Kenntnis, höchstens das, was ich gekocht habe.»

«Das Essen ist der erste Schritt. Jetzt müsstest du den Mannen nur noch schöne Augen machen.» Anna hob den Kopf und funkelte Rosa erbost an.

«Ich bin doch keine Hure! Eine anständige Frau schlägt die Augen sittsam nieder.» Rosa zuckte überlegen mit der Schulter, zupfte ihre Bluse zurecht, setzte sich den Eimer auf den Kopf und wandte sich zum Gehen.

«Wenn du meinst … », lachte sie spöttisch und machte sich auf den Weg.

«Lass dich von ihr nicht beeindrucken, Anni. Sie ist jung, sie hat noch wenig Erfahrung. Es würde mich gar nicht wundern, wenn sie eines Tages mit einem Balg dastünde, so wie sie sich benimmt.»